This is not a love song¹. Ode an Berlin

8. Januar 2016
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Postkarte aus den 1980er Jahren, gekauft bei meinem 1. Berlinbesuch 1988

Es war im Dezember. Ich erinnere mich genau. Diese kohlegeschwängerte Eiseskälte – im Westen schwarz, im Osten braun.

Die Umstände waren nicht eben rosig. Ziemlich neben mir kam ich zu dir. Doch dir war das gleich. Du lächeltest dein schiefes Lächeln, schlosst mich in deine Zottelfell bejackten Arme und summtest mich sanft in den Schlaf. Seither bin ich dir treu, denn – bei allem Ärger hie und da – ick liebe dir, du liebes Tier.

Dein Name klang schon durch meine Kinderstube, der lieben Verwandtschaft wegen. Die einen sprachen stets schlecht von dir: großkotzig und ungeniert, das seist du, und blöde. Die anderen dagegen liebten dich für deine Weltoffenheit und Toleranz (manch einer sprach lieber von Ignoranz). Das weckte die Neugier und einen Wunsch: Ein eigenes Bild wollte ich mir machen. Doch bis es möglich wurde, vergingen Jahre.

Es geschah heimlich, per Anhalter über den Transitverkehr und ich staunte nicht schlecht als ich vor dir stand. Weder fand ich die Dame von Welt noch die bornierte Tante. Eine Tunte eher. Wild und verrucht, großherzig und warm – und weit entfernt von Diplomatie.

Bei unserer ersten Begegnung gleich, zeigtest du mir, was ich war – und doch um nichts in der Welt sein wollte: ein Mädchen aus der Provinz. Und trotzdem – oder vielleicht grad darum – liebte ich dich spontan.

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1988 auf dem Weg nach (West-)Berlin  

Jede Nacht wollte ich mit dir zum Tag machen, mal Pogo, mal Walzer tanzend; jeden Tag mit dir bei frischer Poğaça begrüßen, in der O-Straße im schmutzigen Morgengrau. Endlos wollte ich deinen Geschichten lauschen im Schlendergang an der Mauer entlang, vom Schlesischen Tor bis zum Potsdamer Platz, diesem Brachland der deutschen Geschichte. Zusammen mit dir die Engel aufspüren, auf der Goldelse oder unter dem Stern, und niemals mehr deinen Himmel missen – das wollt ich, und noch viel mehr.

Meinen Pass verlor ich bei diesem ersten Besuch, und Herz und Verstand gleich dazu. Doch bis ich in deinem Schoss sesshaft wurde, sollten 2.555 Tage vergehen. Eine Transitstrecke gab’s da nicht mehr und die Mauer war nur mehr Relikt. Der Potsdamer Platz war nun Großbaustelle und das Schlesische Tor degradiert: eine vorletzte Station ohne Aussichtsturm. Kreuzberg war nicht mehr peripher und der Osten das Zentrum der Träume – und träumen, das konntest du. Wild und schön und groß.

Die Nächte haben wir uns um die Ohren geschlagen, im SO, im Eimer und irgendwo. Doch stets hattest du ein Auge auf mich, damit ich nur ja nicht verloren ginge. Und während mich noch die Alpträume jagten von verpassten Chancen und verlorenem Glück, zogst du mich sachte direkt über Los.

Das 21. Jahr bin ich nun hier und ahne: Ich geh wohl nimmer fort. Denn, Berlin, ick liebe dir.²

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Irgendwo in Kreuzberg rund um die O-Straße | 1991

¹ Das Stück von Public Image Limited aus dem Jahr 1983 verschmilzt in meiner Erinnerung mit meinem 1. Berlinbesuch. Vielleicht habe ich es dort zum ersten Mal gehört. Ich weiß es nicht mehr. 
² Ein Spaziergang durch (mein) Berlin {englisch}

10 Comments

  • 8 Jahren ago

    Oh, das habe ich gern gelesen! Und bin gleich mitgereist in die Vergangenheit. Auch in meinem Leben hat Berlin immer wieder mal eine Rolle gespielt (mein Großvater kommt aus Berlin, meine Patentante hat hier gewohnt, ich habe oft eine Freundin besucht, …). Und dieses Jahr ist erst mein siebtes. Lass es das verflixte sein, auch ich kann hier nicht mehr weg. Liebe Grüße!

  • 8 Jahren ago

    Ich bin in diese Stadt hineingeboren. Ich liebe sie immer, wie eine Mutter. Ich kann nicht ohne, will aber wie die Kinder so sind, in die weite Welt. Aber kaum bin ich draußen, jammer ich mich wieder nach Hause. Diese schnoddrige und abweisende Art, ist mein zu Hause! Ick liebe dir…
    Andrea

  • 8 Jahren ago

    im jahr deines ersten berlinbesuches bin ich dort geboren und seitdem hat es mich auch noch nicht fortgehen gelassen. ein schöner text.
    vg doro

  • 8 Jahren ago

    Schön. nicht nur die Bilder.
    [südostliche Grüße!]

  • 8 Jahren ago

    Was für eine schöne Liebeserklärung… Wir haben eine ambivalente Beziehung, Berlin und ich…, so gern ich dort bin, so gern fahre ich auch wieder raus. Es zieht mich an und nervt mich dann doch irgendwann. Aber es gibt schon Plätze…, die gibt es nur in Berlin ;-). Lieben Gruß Ghislana

    • 8 Jahren ago

      Oh ja, Ambivalenzen schließt auch meine Liebe zu dieser Stadt auch mit ein. Sie hat Seiten und Marotten, die sind an der Grenze des Erträglichen. Und manches Verhalten grenzt an Körperverletzung. Aber am Ende bleibt's wie's ist: ick liebe ihr. 😉

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