„In der Fremde hat man keine schützende Haut.“ Im Gespräch mit Mehrdad Zaeri {Fluchtgedanken IV}

7. Januar 2016

Bis heute staunt er immer wieder über den Gang seiner Geschichte, die exemplarisch für viele Menschen stehen könnte, die Zuflucht bei uns suchen: Mehrdad Zaeri. Vor rund 30 Jahren floh der damals 15jährige mit seinen Eltern aus dem Iran über die Türkei nach Deutschland. Ein „Flüchtling“, ein „Asylbewerber“. Heute ist der Zeichner, der sein Glück nicht fassen kann, ein angesehener Künstler.

Im Rahmen meiner Reihe „Fluchtgedanken“ erzählt er davon, was es bedeutet, alle Brücken hinter sich abzureißen und in der Fremde einen Neustart zu wagen, wer zu dessen Gelingen beigetragen hat und wie er das politische Deutschland heute erlebt. Herzlichen Dank, lieber Mehrdad!


Mehrdad Zaeri

Am 24. Dezember 1985 kamst du fünfzehnjährig mit deiner Familie als „Flüchtling“ aus dem Iran nach Deutschland. Warum seid ihr damals geflohen und wie hast du die Flucht erlebt?

Wir sind ca. fünf Jahre nach dem Sieg der Iranischen Revolution in die Türkei und dann nach Deutschland geflohen.

Es gab zwei Gründe für unsere Flucht. Der erste Grund war die Machtübernahme der Islamistischen Partei, die in einer schnellen Aktion alle anderen Parteien ausschaltete und mit großer Eile die Vernichtung aller Pläne vorantrieb, demokratische Strukturen aufzubauen.

Der zweite Grund war der blutige Krieg zwischen Iran und Irak. Alle jungen Männer ab fünfzehn Jahren durften das Land nicht mehr verlassen und mussten sich für die Front einsatzbereit halten. Ich war vierzehneinhalb. Wir mussten schnell handeln.

Wie verlief die Flucht?

Meine Flucht verlief in drei Phasen. Die erste Phase fand in den Tagen vor unserer Flucht statt. Meine Eltern sagten mir, dass wir sehr bald flüchten würden. Ich sollte niemandem davon erzählen, nicht einmal meinen besten Freunden. Ich war euphorisch und wollte so schnell wie möglich weg. Der Druck der Islamisten auf der Straße war groß und ich litt unter ihrem Terror.  

Die zweite Phase war die der Trauer. Sie begann an einem frühen Morgen im kalten Winter 1985, kurz vor Sonnenaufgang am Busbahnhof der Stadt Isfahan. Wir saßen im Reisebus Richtung Istanbul, drumherum standen unsere engsten Freunde und Verwandte und weinten. Für mich mit meinen 15 Jahren war die Situation sehr befremdlich; ich war voller Vorfreude auf die kommende Reise. Erst als der Bus losfuhr und meine mir liebsten Menschen immer kleiner wurden, schoss mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf: „Schaue sie Dir gut an“, sagte ich zu mir, „denn du wirst sie nie wieder sehen!“ In dem Moment brach in mir eine Welt zusammen.  

Die dritte Phase war die Ankunft in Deutschland. Wir wussten, dass unsere Flucht nun ein Ende haben würde. Mit aller Kraft versuchte ich die Brücken zur Vergangenheit abzureißen, um meine neue Heimat unvoreingenommen annehmen zu können. Es war eine Phase der großen Verunsicherung, aber auch der Neugierde, der Demütigung, des Fallens und Wiederaufstehens.

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Es ist ein großer Schritt alles hinter sich zu lassen und sich auf die beschwerliche „Reise“ ins Unbekannte zu machen. Wie hast du dir Deutschland und dein Leben hier  während des Aufbruchs und der Flucht vorgestellt?

Deutschland war für mich gleichbedeutend mit dem Westen. Der Ort, an dem Menschen SEIN dürfen, ohne Angst zu haben. Ein Land, in dem die Türen zu allen Erfolgswelten offen stehen. Ein Land, das dir die Freiheit lässt, zu tanzen, singen, flirten, lachen… ohne, dass du dich erklären musst. Diese Erwartung wurde nicht enttäuscht. 

Woher kamen die Bilder? Damals gab es ja noch keine sozialen Medien.

Wir lebten im Iran sehr westlich. Man konnte kaum Unterschiede ausmachen zwischen unserer und der europäischen Lebensweise. Wir hatten Video- und Audiokassetten, waren in der europäischen und nordamerikanischen Musik- und Unterhaltungswelt zuhause und kannten uns im westlichen Denken bestens aus.

Der radikale Bruch mit der westlichen Welt kam erst nach der Machtübernahme der Islamisten. Doch der Lebensstil in den iranischen Städten ist bis heute sehr westlich geprägt.  

Seit du vor gut 30 Jahren herkamst, ist viel passiert. Heute lebst mit deiner Frau als anerkannter Zeichner in Mannheim. Kannst du rückblickend sagen, was und wer (neben dir selbst) dazu beigetragen hat, dass du in diesem Land ein gutes Leben führen kannst?

In erster Linie war es meine Familie, die mir Kraft und Stabilität gab. Ohne sie hätte ich es deutlich schwerer gehabt. Wir kamen in einer schwierigen Zeit nach Deutschland. Die Stimmung in den 1990er war sehr emotionsgeladen. Wir wurden beschimpft, beleidigt und und bedroht.

Nur durch die Unterstützung jener freundlichen „Deutschen“ haben wir den Glauben an dieses Land nicht verloren. Es waren unsere Lehrer, Nachbarn, und Mitschüler, die uns ein Gefühl von Heimat und Ruhe gaben.  

In der „Fremde“ hat man keine schützende Haut. Jeder noch so kleine Angriff verwundet und jede liebevolle Geste tröstet umso mehr.

Mehrdad Zaeri
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Rechtsextremismus, brennende Flüchtlingsunterkünfte, verbale Schlammschlachten… Wie nimmst du die aktuelle gesellschaftliche und politische Lage in diesem Land wahr? Was besorgt dich am meisten?

Vor der nächsten Zeit bangt mir etwas, denn was wir seit einigen Jahren in fast allen europäischen Staaten sehen, wird auch hier stattfinden. Rechte Parteien werden sich etablieren, vielleicht sogar Regierungsverantwortung übernehmen. Die großen Parteien werden sich immer aus wahltaktischen Gründen mehr nach Rechts bewegen. Aber – da bin ich sicher – diese Zeit, des Nationalismus, Egoismus und der Ignoranz ist nur eine Übergangsphase in ein toleranteres Deutschland. 

Übergänge sind oft konfliktreich und setzen viel Energie frei. Die Menschen haben Angst vor den kommenden Veränderungen, ihnen fehlt der Mut und das Selbstvertrauen, sich den (neuen) Themen zu stellen. Es ist nur eines klar: Wir werden die „Flüchtlinge“ nicht stoppen können. Keine Mauern und keine Zäune können sie aufhalten. Wir täten besser daran, wenn wir dieser Entwicklung positiv begegnen und daraus für uns und für sie das Beste machten. 

Was möchtest du nächstes Jahr an diesem Tag als Überschrift in deiner Tageszeitung rund um das Thema „Flüchtlinge“ lesen?

Die Ängste der Bürger lassen langsam nach. 

Was können wir tun, damit diese Überschrift die „Lage der Nation“ beschreibt?

Wir müssen die Geschichten dieser Flüchtlinge erzählen. Wir müssen den Menschen die Leidensgeschichte und Träume dieser Menschen in Worten und Bildern zeigen. Geschichten pflanzen in unsere Herzen Empathie und Mitgefühl. Empathie ist das beste Mittel gegen Ignoranz und Angst.

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7 Comments

  • Spannend und schön zu lesen. Danke euch zwei.
    Liebste Grüße
    Eva

  • 8 Jahren ago

    Auf der Suche nach dem leider schon vergriffenen Kalender Let´s talk habe ich vor kurzem auf seiner Internetseite einen kleinen Film entdeckt, in dem er unter anderem von den Ursprüngen seiner Leidenschaft fürs Zeichnen erzählt. Das hat mich sehr berührt. Ebenso das einfühlsame Interview hier. Kam gerade zur richtigen Zeit. Danke! LG, Annett

  • 8 Jahren ago

    Was für ein wohltuendes Interview in diesen Tagen. Danke für die Einblicke und die Illustrationen, die neben den Worten so sehr berühren!

  • 8 Jahren ago

    Vielen Dank für kluge Fragen und ebensolche Antworten.
    "Empathie ist das beste Mittel gegen Ignoranz und Angst." – das ist so wahr. Leider bedarf es als Voraussetzung der Bereitschaft den Geschichten zuzuhören – und Angst macht taub und generiert einen Tunnelblick. Ein fataler Teufelskreis.
    Deshalb Danke für diese Geschichte und die Menschen, die sie aufschreiben – ich hoffe, es lesen sie möglichst viele.
    Großartige Illustrationen.

    LG, Katja

  • 8 Jahren ago

    Was für wunderbare Illustrationen zu diesem Thema, Mehrdad. Ich muss unbedingt mehr erfahren. Danke Euch für dieses Interview. Ja, diese Geschichten müssen erzählt werden. Immer und immer wieder.

  • Danke für diesen Post! Danke Euch Beiden!

  • 8 Jahren ago

    Wohltuend und berührend. Menschlich. Persönlich. Danke Indre und Mehrdad Zaeri

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