»Mich hat das Lesen mutiger gemacht« Im Gespräch mit Linus Giese {Buzzaldrins Bücher}

8. Januar 2018

Bücher sind Türen, Lesen ist ein Weg ins Leben. Für Linus Giese, den Mann hinter Buzzaldrins Bücher, gilt das nochmals mehr. Das Lesen, sagt er, hat ihn nicht nur mutiger, stärker, liebenswerter, klüger, geduldiger und verständnisvoller gemacht, es hat ihn auch gerettet: Es waren Bücher, die ihm klarmachten, dass er nicht alleine ist mit seinen Wünschen und Empfindungen und die ihn darin bestärkten, seine wahre Identität und den richtigen Namen anzunehmen.

Das erste Montagsinterview im neuen Jahr dreht sich um Leben und Literatur, Bücher und Berlin. 1.000 Dank, lieber Linus, für das inspirierende Gespräch, mit dem ich allen einen gelungenen Start in die 2. Woche des noch jungen Jahres wünsche.

buzzaldrinsblog Linus Giese

Seit 2011 schreibst du auf deinem Blog über Bücher. Seit 2017 arbeitest du in einem Buchladen. Was bedeuten dir die Bücher und was ist Lesen für dich?

Es gibt diese einen wunderschönen Satz, der diese Frage für mich perfekt beantwortet:

»Für mich ist Literatur ein Ausweg – nicht aus dem Leben heraus, sondern ins Leben hinein.«

Zu wissen, wie ich sein möchte und wie ich leben will, war gar nicht immer leicht für mich. Doch schon immer waren Bücher für mich eine Möglichkeit, einen Blick in das Leben anderer Menschen zu werfen: Wie lebt und liebt man? Wie geht man mit Traurigkeit und Unglück um? Was fehlt zum Glück? Und wie stellt man sich dem Leben und dem Tod?

Während meines Studiums fing ich an, ein Notizbuch zu führen, in das ich Sätze und Zitate von Autoren schrieb, die durch ihre Bücher zu mir sprachen. »Unglück multipliziert sich, wenn es nicht schnell genug behandelt wird« ist eine Lebensweisheit von Marisha Pessl, die mich durch den einen oder anderen unglücklichen Moment begleitet hat. Janet Fitch hat mir Kraft gegeben, wenn sie schreibt, dass es nur eine Tugend gibt: »Man kann alles ertragen. Der Schmerz, den wir nicht ertragen können, tötet uns sofort.« Ich glaube daran, dass man aus Büchern lernen kann, wie man leben darf. Ich glaube daran, dass Bücher dabei helfen können, Antworten zu finden. Mich hat das Lesen mutiger gemacht, stärker, liebenswerter, klüger, geduldiger und verständnisvoller.

Welche Bücher haben dein Leben verändert?

»Stone Butch Blues« von Leslie Feinberg und »Boy’s dont cry« von Aphrodite Jones – beide Bücher haben mir gezeigt, dass ich nicht alleine bin und dass es noch andere Menschen gibt, die ähnliche Wünsche und Empfindungen haben, wie ich selbst. Ich würde sagen: Beide Bücher haben mein Leben nicht nur verändert, sondern auch gerettet.

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Seit Anfang November lebst du in Berlin. Was hat dich zu diesem Schritt bewogen?

Ich habe schon lange davon geträumt, irgendwann in Berlin zu leben – die Gründe dafür sind vielfältig: zum einen wohnen hier viele Freunde und Freundinnen, über deren Nähe ich mich freue. Zum anderen schätze ich das vielfältige kulturelle Angebot und die unzähligen Buchhandlungen, die ich hier entdecken kann. Dieser Sommer war ein Sommer der Veränderung und das Stellenangebot in Berlin etwas, mit dem ich nie gerechnet hatte. Irgendwie erschien mir das alles wie eine Fügung, deshalb habe ich – ohne viel darüber nachzudenken – Anfang November meine Sachen gepackt, um endlich hier her zu ziehen.

Was ist anders in Berlin? Was vermisst du hier und was genießt du hier?

Zuletzt habe ich in Würzburg und Mühlheim am Main gelebt, im Vergleich dazu, laufen in Berlin viel mehr Menschen herum, das Leben in Berlin erscheint mir viel offener und freier und weniger festgefahren und engstirnig. Am meisten vermisse ich meinen Hund, den ich leider nicht mitnehmen konnte und der mir sehr fehlt. Aber es gibt auch ganz viele Dinge, die ich genieße: viele Freunde und Freundinnen, die ich sonst nur alle paar Monate sehen konnte, kann ich nun viel häufiger und unkomplizierter treffen. Ich genieße auch das Gefühl, hier endlich so akzeptiert und angenommen zu werden, wie ich bin. Neun Wochen Berlin haben mich bisher glücklicher, selbstbewusster und zufriedener gemacht.

Am 26.11.2017 bist du mit einem Post an die Öffentlichkeit getreten und hast mitgeteilt, dass »Mara« nicht mehr der richtige Name für dich ist und dass du keine Frau bist. Was ist seither passiert?

Ich habe fast ausschließlich positive Reaktionen auf meinen Post bekommen – manchmal kann ich das selbst nicht glauben, aber bisher freuen sich alle für mich, unterstützen mich, fühlen mit mir oder stellen auch mal die eine oder andere interessierte Frage. Was mich jeden Tag wieder erneut glücklich macht, ist, dass ich auch bei der Arbeit in der Buchbox als Mann akzeptiert werde – jedes Telefongespräch, bei dem ich meinen Namen sagen darf, ist für mich gerade noch mit Glücksgefühlen verbunden.

Natürlich gibt es auch doofe Kommentare – Linus, meinen neuen Namen, habe ich zum ersten Mal in einem Starbucks gesagt. Den Becher habe ich anschließend auf Facebook gezeigt und eine Freundin kommentierte: »Ich würde es liken, wenn es nicht Starbucks wäre.« Und kürzlich durfte ich eine Rezension, die ich für die Neue Osnabrücker Zeitung geschrieben hatte, nicht unter dem Namen Linus veröffentlichen. Ich erlebe immer wieder Tiefschläge und Enttäuschungen, aber ich versuche, mich nicht lange darüber zu ärgern.

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Wie würdest du deinen Weg zu dir beschreiben? Was hat dich ermutigt? Wovor hattest du Angst?

Der Weg zu mir war einsam, lang und schwierig – ich werde manchmal sehr traurig, wenn ich bedenke, dass ich mir mit fünf oder sechs Jahren ganz sicher war, ein Junge zu sein und erst mit 31 Jahren den Schritt gehen konnte, auch öffentlich dazu zu stehen. Dazwischen liegen unfassbar viele Jahre der Angst und Scham – Jahre, in denen ich mich mit mir selbst und meinem Körper gequält habe. Zu dem Schritt, endlich zu mir zu stehen, hat mich vor allem ein Freund ermutigt, der mir gezeigt hat, dass ich mich nicht schämen muss, dass ich so leben darf, wie ich leben möchte und all das kein schmutziges Geheimnis ist – niemand wird vor mir wegrennen, wenn ich offen darüber spreche.

Welches Buch steht warum stellvertretend für dein Jahr 2017 und welchen Namen würdest du deinem 2017 geben?

Da fällt mir sofort und ohne lange nachzudenken »Darling Days« ein, die Autobiographie von iO Tillet Wright. Das ist mein Buch! Wright schreibt darin offen und frei von Scham darüber, wie er sich mit sechs Jahren dazu entschied, fortan als Junge zu leben – er kämpft sich durch eine furchtbare Kindheit und eine schwierige Pubertät, um am Ende vielleicht nicht heil, aber zumindest lebend, daraus hervorzugehen. Die guten Tage sind selten, aber dafür umso wertvoller – Wright nennt sie Darling Days und schreibt an einer Stelle:

»Das sind die Darling Days, wenn alles gut ist und das Ungeheuer schläft.«

Meinem Jahr 2017 würde ich deshalb auch den Titel Darling Days geben – ich habe es endlich geschafft, zu mir und meinen Wünschen zu stehen und mir ein Leben aufzubauen, das sich passend und gut anfühlt. Es fühlt sich gerade so an, als würden die Tage, an denen alles gut ist, häufiger werden und ich hoffe, auch der Rest des Jahres hält noch einige Darling Days für mich bereit.

Was fällt dir ein, wenn du an das kommende Jahr denkst?

Für 2018 wünsche ich mir viele gute Tage, viele schöne Begegnungen, viele tolle Bücher. Ich wünsche mir, dass ich mich traue, weiterhin zu mir zu stehen und ich freue mich auf all das, was auf mich zukommt – ich möchte gerne noch offener über meine Erfahrungen schreiben und sprechen und bin gespannt, was sich da so ergibt. Außerdem freue ich mich auf jeden Schritt, den ich auf dem Weg meiner Transition gehen werde.

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Bildnachweis: alle Fotos © Linus Giese

2 Comments

  • 6 Jahren ago

    Wunderbar. Ehrlich, berührend, inspirierend. Mit Vorfreude auf Frühling und die rettende Bücher, immer wieder. Danke dafür.

  • 6 Jahren ago

    Danke für das fein illustrierte Interview. Habe es gern gelesen und die Fotos betrachtet!

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