Mein Wunderglaube | von Hazel Rosenstrauch

10. Januar 2018

Erstaunlich differenziert… wollte ich schreiben, dann habe ich weiter geblättert und musste mich korrigieren. Vielleicht ist es doch nicht erstaunlich? Der Bericht über „kriminelle Flüchtlinge“ auf Seite 2 der alten Tante Tagesspiegel („Das Leitmedium der Hauptstadt“) war ausführlich, klug und einleuchtend.* Vier Journalisten – drei davon Frauen – haben das Material einer Untersuchung über Kriminalität im Jahr 2017 genau angesehen und berichten, dass nicht „die Flüchtlinge“, sondern vor allem junge Männer, die aus „prekären gesellschaftlichen Milieus“ kommen, keine Aussicht auf Bleiberecht und deshalb auch hier keine Perspektive haben, zu kriminellen Handlungen neigen.

Erstaunlich fand ich ja nicht das Ergebnis der Untersuchung, sondern dass so differenziert und wohlwollend berichtet wird. Erstaunlich fand ich auf den ersten Blick auch, dass das beauftragte Institut in der Schweiz zu Hause ist. Das mag eine Neigung zu Blasenberichterstattung minimiert haben.

Oder ist es gar nicht erstaunlich, nur ich bin schon so angepasst, dass ich – obwohl ich nicht zwitschere – Nachrichten im Format von 142 Zeichen oder 25 Sekunden erwarte? Nachdem ich ein wenig in mich gegangen bin sehe ich ein, dass es normal ist (sein kann), wenn eine Berliner Tageszeitung eine ganze Seite diesem Thema widmet, ohne Vor-Urteile, ohne Schaum vor der Tastatur, weltoffen und nachdenklich. Auch im Radio und TV war der Bericht über diese Studie „erstaunlich“ ausführlich.

Es hat wohl mit meinem Alter zu tun, mit Erinnerung an Zeiten mit heftigem Rassismus, den ich (auch in der sogenannt gebildeten Mittelschicht) in diesem Land erlebt habe. So lange ist das nicht her, eine Morddrohung Mitte der 1980er Jahre, eine damals desinteressierte politische Polizei… deshalb kann ich doch sagen: Es ist ein Wunder. Es hat sich viel verändert, Offenheit und differenzierte Meinungen sind normal geworden – sage ich auch und weil derzeit andere Ansichten hochkochen.

Als gelehrige Schülerin Ernst Blochs füge ich falsch Getrenntes zusammen und denke an „Ausländer“ – aus China, Russland, England, USA oder auch Italien, die in meinem Kiez Häuser kaufen oder bauen lassen, und die Mieten hochtreiben. Was sie tun ist erlaubt. Wenn ich Mails aus Wien bekomme, oder Artikel über Zwickau lese, kommt mir der Gedanke, dass ich vielleicht in einer Blase lebe.

Sobald ich mit Freunden aus Österreich, der Schweiz, Holland und Dänemark spreche neige ich dazu, an ein deutsches Wunder zu glauben.

Photo by Jose Orenes Martinez on Unsplash

Von Ungarn, Polen, Tschechien ganz zu schweigen. Das Schmähwort für meine positive Sicht kam mir auch in den Sinn, als ich in der Bibliothek alte Bücher aus dem Regal holte. Sie erinnerten mich daran, dass – lange bevor es diese sogenannt sozialen Medien gab – Germanisten oder Soziologen und auf diese oder jene Themen spezialisierte Historiker auch in ihrer jeweiligen Blase gelebt und selten Ergebnisse anderer Disziplinen zur Kenntnis genommen haben. Auch das hat sich geändert, es gibt viel mehr „interdisziplinär“ arbeitende Akademiker + innen.

Und weil ich beim Wundern bin, will ich im ersten Beitrag des Jahres 2018 die Magie der Jahreszahlen nicht übergehen. Sie fängt schon an, die Reminiszenz an das Ende des 1. Weltkriegs und an die ganz kurze deutsche Revolution, auch wird an den Beginn des 30jährigen Kriegs erinnert und – mit Zeitzeugen und Zeitzeuginnen bestückt wird auch an 1968 gedacht. Die ersten Sendungen und Artikel zum Thema Fünfzig Jahre Revolte haben dieses Jahr erstaunlich positiv gewürdigt. Auch das war nicht immer so. „68“ war noch vor kurzem an allem Möglichen schuld – Verwahrlosung, Ende von Sitte und Anstand, schlechten Lehrern, schlampigen Arbeiten etc.

In den bisher von mir wahrgenommenen Rückblicken ist hingegen auf freundlich jubilierende Art von sexueller Befreiung, weiblichem Selbstbewusstsein und der Abschaffung autoritärer Strukturen die Rede. Erst dank dieses Aufbruchs seinen Prügelstrafen geächtet und Machtmissbrauchs von Vätern und Ehemännern zumindest eingeschränkt worden. Was ja auch wie ein Wunder wirkt, wenn man sich ein wenig mit deutscher Geschichte und Mentalität beschäftigt hat.

Manchmal bin ich froh, dass ich lang genug lebe, um zu wissen, wie sich Einstellungen und Meinungen ändern – auch wissend, dass diese von meiner Generation getragenen Modernisierungen keineswegs selbstverständlich sind. Und um zu erkennen, wie launenhaft und beliebig solche Memorabilien sein können. Das Glas ist nicht nur halb leer, auch halb voll, das mag manchmal beschönigen, hilft jedenfalls gegen Lähmung – ich nehme die Rolle einer alternden Rückblickerin mit dem berühmten lachenden und weinenden Augen (manchmal) gerne an.

PS: Wenn ich „kriminelle Flüchtlinge“ in meiner Suchmaschine eingebe, kommen vor allem schreckliche Mitteilungen über „die“ bösen Flüchtlinge und zu lahme Gesetze. Was – schwacher Trost – immerhin beweist, dass mich der Algorithmus noch nicht erkannt hat.


*Wer mehr erfahren möchte, findet hier den Bericht in der Online-Ausgabe des Tagesspiegels.

Bildnachweis: Foto von Jose Orenes Martinez on Unsplash

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