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Am 23. Oktober lag der Süddeutschen Zeitung ein Magazin über Luxus bei. Nicht mein Thema, dachte ich im ersten Moment, und begann zu blättern. Seite 2/3: Luis Vuitton, Seite 4/5: Rolex, Seite 6/7: Dolce & Gabbana. Seite 9: HUBLOT. Ich fühlte mich bestätigt. Doch dann stieß ich auf Benedikt Sarreiters Artikel ‚Die himmlische Unvernunft‚ und mir wurde klar: Wenn ich bis eben dachte, Luxus liegt mir fern, lag ich falsch.
Sarrreiter zeigt auf wunderbar schelmische Weise, dass Luxus viel mehr sein kann als das unverhältnismäßig Teure und unvernünftig Verschwenderische. Befreit aus dem Konsumkorsett wird Luxus zu einem unkonventionellen Abenteuer, an dessen Ende eine neue Erfahrung oder tiefe Einsicht stehen kann:
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‚Unvernünftig, verschwenderisch – das sind Prädikate, die ihm oft zugeschrieben werden. Und tatsächlich: Luxus kann grell, blöd und Paris Hilton sein. […] Doch wird er zum Drift, ist er vielleicht immer noch unvernünftig, aber nicht bescheuert, sondern auf sehr schlaue Art unvernünftig. Die Flucht vor den üblichen Zwängen kann sich später als klug erweisen.‘
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Zur Untermauerung seiner These holt sich Sarreiter keinen Geringeren als den humanistischen Gelehrten Erasmus von Rotterdam zur Seite. In seiner Satire Lob der Torheit verteidigt das Universalgenie die ‚himmlische Unvernunft‚ des mutigen Machers gegen die scheinbar über alle Täuschung erhabene Vernunft des rationalen Denker. Denn – so Erasmus – am Ende erlange doch nur der ‚Törichte‘ die ‚wahre Klugheit‘ – womit er wohl ‚Erfahrungsreichtum‘, im weiteren Sinne Weisheit meint.
Die Tempelhofer Freiheit: Luxus ist diese Freifläche mitten in der Innenstadt. |
Seit ich den Artikel gelesen habe, halte ich ständig Ausschau nach Notausgängen und Fluchtwegen aus meinem ach so vernünftigen Leben – und stelle jedes Mal fest: Ausbruchsmöglichkeiten bieten sich eigentlich fast überall, ich muss mich nur entscheiden, welche Richtung ich einschlagen will: den gewohnten Weg oder den Abzweig ins Ungewisse. Und nicht jede Richtungsentscheidung ist auch eine Grundsatzentscheidung. Oftmals ist der ‚Regelverstoß‘ viel weniger radikal – und ganz M i MA-kompatibel. Der Luxus, den ich mir (im Moment) leisten will, hat so absehbare Konsequenzen wie der tiefrote Kontostand nach einem Kaufrausch oder der morgendliche Kater nach einer weinseligen Nacht.
Kürzlich entschloss ich mich beispielsweise spontan, meinen Arbeitsweg statt mit dem Fahrrad zu Fuß zu nehmen, und nahm dafür das vergleichsweise geringe Risiko in Kauf, mir einen Rüffel für die Verspätung einzufangen. Der morgendliche Spaziergang durch den herbst-bunten Tiergarten tat gut – und führte mich ganz nebenbei zur Lösung eines Problems ein, über das ich seit Tagen gebrütete. Der Knoten war schlendernd geplatzt.
Nichtstun oder Müßigkeit, das ist ein weiterer Luxus, den ich mir hin und wieder leiste. Zugegeben, es kommt eher selten vor. Denn einfach rumsitzen und vor mich hin träumen, Gedanken kommen und gehen lassen, das kann ich nicht wirklich gut. Aber wenn es mir gelingt, genieße ich es mindestens so sehr wie das Schlendern (kennt ihr eigentlich das Lied ‚Schlendern ist Luxus‘?).
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Auch Bloggen ist ‚himmlisch unvernünftig‘. Aus Vernunftsicht ist es reine Zeitverschwendung: macht viel Arbeit und bringt wenig materiellen Gewinn. Doch für mich ist es ein Abenteuer, das ich nicht missen möchte. Wie viele wundervolle Begegnungen, Gespräche, neue Möglichkeiten und Erfahrungen hat mir dieser ‚Irrsinn‘ schon beschert.
Ein weiterer Luxus, den ich mir leiste und ein Fluchtweg aus den geltenden Konventionen ist die Kunst. Egal ob Text, Bild, Skulptur oder Ton – immer wieder stellt sie meine wohlsortierte Wirklichkeit in Frage, indem sie mich mit neuen, bisweilen verstörenden Perspektiven auf zum Teil altbekannte Phänomene konfrontiert. Wie brutal banal kommt beispielsweise die Modeindustrie daher, wenn die zerstörte Bangladescher Textilfabrik als Motiv ein Sweatshirt ziert – und dabei auch noch ’stylisch‘ aussieht. Eine Zumutung. Mein Moralapparat will reflexartig ausweichen, doch meine Neugier war schneller. Längst schlägt sie sich fragend ihre Bahn durchs interpretatorische Dickicht: Kann man dieses Sweatshirt tragen? Würde ich es tragen? Und was erzählen meine Antworten auf diese Fragen über mich und die Welt, in der ich lebe? Es ist unvernünftig, weil unbequem, sich immer wieder in Frage zu stellen. Aber das ist ein Luxus, den wir uns – an dieser Stelle muss ich einfach eine Lanze für die Kultur brechen – auch als Gesellschaft leisten sollten, ja, müssen! (Dazu an anderer Stelle gerne mal mehr.)
Mit diesem kurzem, aber leidenschaftlichen Plädoyer für mehr Kultur bringe ich das Gedankenkarussel vorübergehend zum Stehen und frage euch: Was meint ihr? Sollten wir nicht öfter ‚himmlisch unvernünftig‘ sein und mutwillig gegen gängige Konventionen verstoßen – auf die Gefahr hin, dem ein oder der anderen vor den Kopf zu stoßen, aber dafür um neue Erfahrungen und Einsichten reicher sein?
Liebe Indre, heute muss ich endlich Danke sagen fuer Deinen wunderschoenen Blog! Das Thema wieder: Luxus! Herrlich, ich traeume auch vom Luxus jenseits des allgemeinen Shoppingwahns. Zeit haben, kreativ sein, neues Entdecken, neues Ausprobieren, dem alltaeglichen Wahnsinn entfliehen … sich selber nah sein, sich seinen eigenen Kopf bewahren.
Liebe Indre, mach weiter so und ich wuensche mir noch viele Luxusthemen 😉
Alles Liebe von Heike
Oh, vielen Dank für deine lieben Worte. Das tut gut!
Danke für Deine angeregenden und zum nachdenken bewegenden Artikel.
Da mir der aktuelle zum Thema Luxus so gut gefallen hat, habe ich eine kleine Leseempfehlung veröffentlicht.
Ich hoffe Du bist mit der Verlinkung einverstanden.
Es grüßt aus Hamburg und in der stillen Hoffnung auf noch viele Blogeinträge verbleibende
BHS
eine tiefe verbeugung vor dem luxus der unvernunft mache ich, von der früheren unabsichtlichkeit immer mehr und bewusster zum tugendhaften weitersuchennachgelegenheiten. deine gedanken dazu wieder so schätzenswert. mir meines luxus', den ich haben darf, für den ich aber auch gegen widerstände anlaufen muss, so bewusst. jetzt in solcher formuliertheit noch mehr.
liebe indre . ooooohhhh . ich bin ganz bei dir . welch schöne zeilen . luxuriös. bis jetzt war dieses wort so gar nicht wirklich in meinem wortschatz . doch nehme ich es jetzt heute durch dich darin auf : ich habe mich schon vor langer zeit entschieden mein leben luxuriös zu leben . luxuriös nicht im sinne der gesellschaft . nicht im sinne von habenmüssen . nein . luxuriös im sinne . ich gehe meinen weg . meinen ganz eigenen weg . habe zeit . nehme mir zeit . neue wege zu gehen . traue mich weiter und weiter altes kleid abzustreifen . traue mich mehr und mehr mich zu leben .
ich danke dir für diesen morgenpost . er passt so sehr gerade bei mir ins jetzt . merci ………..
ein wunderbar luxuriöser post liebe indre!
Ach, liebe Indre, was für ein Thema….! Für mich ist es heute früh schon Luxus, diesen Beitrag von vorn bis hinten gelesen zu haben…obwohl eigentlich dafür keine Zeit…aber man konnte nicht aufhören zu lesen…Und das Unvernünftigste…Luxeriöseste, was ist in der letzten Zeit begonnen habe, ist genau das Bloggen, denn es kostet wirklich eine Menge Zeit und mein Alltag war schon vorher reichlich ausgefüllt…aber das Leben wäre so trist, wenn man nicht dauernd etwas vermeintlich Unvernünftiges macht, nicht…? Vielen Dank für diesen wunderbaren Artikel! LG Lotta.