KW 22 #Neuland – Oder wider die politische Kultur der Stellungnahme

1. Juni 2019

„Das Internet ist für uns alle Neuland.“ Mit diesem Satz antwortete die Kanzlerin im Jahr 2013 auf einer Pressekonferenz mit Barack Obama auf eine Frage nach dem Überwachungsprogramm Prism und sorgte damit für große Heiterkeit in der Netzgemeinde.¹

Sechs Jahre später hat der Satz nichts an seiner Aktualität eingebüßt. Auch die Formulierung „für uns alle“ ist heute so falsch wie damals.

Heute wie damals ist das Internet nicht für alle, sondern für bestimmte Menschen und Gruppen Neuland. Das wäre für sich genommen nicht so schlimm. Schlimm daran ist, dass Angela Merkel den Pluralis Auctoris nicht als Bescheidenheitsplural nutzte, um sich mit Leuten wie meinen Eltern gleichzumachen. Deren digitaler Analphabetismus führt einzig und allein dazu, dass ich auf alte ungeliebte Kommunikationsmittel zurückgreifen muss. Die Kanzlerin bezog damit all jene ein, die die Geschicke unseres Landes lenken, die sogenannten Machteliten: Berufs- und Spitzenpolitiker*innen, hohe Regierungs- und Verwaltungsbeamte.

„Aus irgendeinem Grund ist das Digitalisierungsthema plötzlich ein weltweites Thema geworden.“

frei nach Armin Laschet (CDU)

Die CDU hat ihre digitale Inkompetenz durch ihren maximal bornierten Umgang mit Rezo & Co gerade noch einmal öffentlich unter Beweis gestellt. Und sieht man sich an, was in ihrer Regierungszeit auf Bundes- und Länderebene in Sachen Digitalisierung passiert ist, muss man feststellen: Am Status Neuland hat sich unter ihrer Ägide nichts verändert. Weder sind wir in Sachen Regulierung vorangekommen noch in Sachen digitale Infrastruktur und die Digitalisierung der Verwaltung droht auch zum BER zu werden. Dafür wurde jede Menge Murks gemacht. Lobos Liste der alljährlichen Versagen liest sich wie der Abgesang aufs einstige Wirtschaftswunderland:

  • 2009 Netzsperren versucht,
  • 2010 über Sendezeiten im Internet nachgedacht,
  • 2011 Vorratsdatenspeicherung,
  • 2013 auf NSA-Überwachung nicht reagiert,
  • 2014 Überwachung noch intensiviert,
  • 2015 gute Verschlüsselung erst gefordert, dann als Gefahr bezeichnet,
  • 2016 Netzneutralität eher verbockt,
  • 2017 den drittelgaren Unfug des NetzDG eingeführt,
  • 2019 das bizarre, wirkungslose Leistungsschutzrecht aus Deutschland nach Europa exportiert, Uploadfilter eingeführt, Digitalsteuer aber nicht.³

Bis vor Kurzem hegte ich noch die stille Hoffnung, dass wir zumindest in der Wirtschaft über ausreichend Digitalkompetenz verfügen, um den endgültigen Abstieg zum Entwicklungsland aufzuhalten. Das war massiv naiv. Was ich aus der Unternehmenswelt vernehme, ist diplomatisch formuliert bestürzend.

Kürzlich erhielt eine Bekannte eine Auftragsanfrage von einem dieser angeblich systemrelevanten „Too-big-to-fail“-Konzerne: Die Marketing-Abteilung (sic!) wolle sich jetzt auch dem Thema Digitalisierung widmen. Mit dem einstündigen (sic!) Vortrag solle sie dafür sorgen, dass die Mitarbeiter*innen anschließend allesamt hochmotiviert an die digitale Transformation machten. … hat man Worte?! Gleichwohl: Ich hätte es besser wissen können.

Nicht nur belegen Studien seit Jahren, dass die deutsche Wirtschaft in Sachen Digitalisierung hinterherhinkt.² Auch meine Erfahrung aus Politikberatung und Public Affairs hätte mich eines Besseren lehren können. Ich kenne keinen einzigen Wirtschafts- und Branchenverband, der in Sachen Digitalisierung wirklich weiter wäre als die CDU, die Rezo mit einer schriftlichen Stellungnahme im PDF-Format antwortete.

Nun machen weder PDF noch Telefax eine politische Position per se falsch. Falsch ist die Position an sich – nämlich als Standardgenre der politischen Kommunikation. Mit ihrer Forderung nach „mehr Elan bei wichtigen Zukunftsthemen“ oder einem „deutlich verbesserten Innovationsklima“ kann ich im Grundsatz durchaus mitgehen – auf ihren Kommunikationspfaden nicht.

Die meisten behandeln Social Media als etwas Lästiges. Der morgendliche Pressespiegel ist dagegen heilig. Dass der eine falsche oder zumindest nur einen, immer kleiner werdenden Teil der öffentlichen Meinung spiegelt, wird ausgeblendet. 

Philipp Jessen: Warum Politik Social Media nicht versteht. In: Tagesspiegel Background vom 28.05.2019

Die Erkenntnis, dass die adressatengerechte Kommunikation für die Durchsetzung politischer Interessen erfolgskritisch ist, hat sich mittlerweile auch in der Verbandswelt durchgesetzt. Schwer genug, kommt es doch dem Eingeständnis zunehmender Bedeutungs- und Machtlosigkeit gleich: Man ist nicht mehr die Autorität, die qua Status Gehör findet, man muss sich Gehör verschaffen. Eigentlich unerhört! Das kratzt am Ego und hinter verschlossenen Türen wird entsprechend getobt.

Doch allein die adressatenorientierte Verpackung („Wir müssen cooler werden.“) reicht nicht aus, will man mehr erreichen als die eigene Filterblase. Es kommt darauf an, wo, wann und wie ich meine Botschaft kundtue. Neben dem passenden Medium (Text, Bild, Audio etc.) und Kanal (Print, Internet, Radio etc.) geht es um den richtigen Zeitpunkt und vor allem um den Duktus. Aber genau da liegt der Hase im Pfeffer begraben und zwar nicht nur in der Verbandswelt, sondern bei allen (noch) herrschenden Eliten – ganz gleich ob Politik, Wirtschaft, Verwaltung oder klassische Medien.

Die anderen Parteien verstehen offenbar nicht, warum man Grün wählt: eben nicht einfach ausschließlich wegen der „Umwelt“. Es ist eine generelle Abwendung vom „Unsympathen“ oder von alberner Politik wie Scheuers Fahrradhelm-Werbung „It looks like shit, but it saves my job“.

Gunter Dueck: DD340: Parteien und Konzerne verlieren, weil sie nicht verstehen, warum sie verlieren – über Verblendung

Sie alle spüren den drohenden Autoritäts- und Machtverlust und die Ahnung, dass ihr Verhaltensrepertoire nicht mehr adäquat ist, lastet auf ihnen wie ein Alpdruck. Doch können sie nicht aus ihrer Haut. Noch im Angesicht einstürzender Gewissheiten treten sie als allwissende Erzähler*innen auf, reden sich im Brustton der Überzeugung um Kopf und Kragen, simulieren Stärke, wo Empathie gefragt ist und reagieren mit Trotz und Schuldzuweisungen, wo ein einfaches Fehlereingeständnis nicht nur angebracht, sondern Ausdruck von Souveränität wäre.

Genau mit dieser Attitüde, mit dieser Mischung aus Überheblichkeit, Verachtung und Entwertung, reiten sie sich immer weiter in die Scheiße. Dabei wäre es gar nicht so schwer, aus der Misere herauszukommen. Man müsste einfach nur mal nett sein: interessiert am Gegenüber, vorurteilsfrei zuhören, hinsehen und nachfragen, wenn man etwas nicht versteht.

Solche „Nettigkeit“ wäre das Ende der klassischen Stellungnahme und der Untergang der politischen Kultur, wie wir sie bisher kennen und leben. Aber sie ist – davon bin ich überzeugt – eine notwendige Voraussetzung, um das Neuland endlich zu erschließen und zwar mit demokratischen Mitteln. Politische Teilhabe, Partizipation, Gemeinwohl und Interessenausgleich, all das sind meines Erachtens probate Mittel. Wir müssen sie nur anders anwenden. Mit Offenheit, Neugier und einer Portion Demut.

Haltung ist alles! […] Dazu gehört auch die Demut zu sagen: ‚Ich weiß es nicht, wir fragen jetzt den Kunden.‘

Insa Klasing von TheNextWe

¹ Merkels „Neuland“ wird zur Lachnummer im Netz. Von Torben Waleczek in: Der Tagesspiegel vom 19.06.2013
² Sascha Lobo: Digitalpolitik der Volksparteien. Marathon im Fettnapf. Spiegel Online | 29.05.2019
³ Beispiel: Deutsche Wirtschaft kommt bei Digitalisierung voran, aber langsam. Bitkom, 2018 oder der jährliche Monitoring-Report Wirtschaft DIGITAL


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Gedanke der Woche

„Alles deutet darauf hin, dass die extreme Rechte eine Minderheit bleiben wird, wenn auch eine relevante. Wirklichen politischen Einfluss kann sie nur erobern, wenn andere Parteien ihre Politik umsetzen, ihre Sprache übernehmen oder mit ihr koalieren. Die können das aber auch verweigern. Eine Schlüsselrolle kommt den Konservativen zu. Sie können, nein, sie müssen die Hüter der demokratischen Ordnung sein. 

Wenn das misslingt, wenn die autoritäre extreme Rechte doch an die Macht kommt, zerstört sie die Demokratie. In Ungarn, Polen, auch Österreich und den USA ist das zu beobachten. Dann kann sie wirklich die ganze Gesellschaft verrücken. Ohne vorherigen Rechtsruck.“

aus: Wieso es keinen Rechtsruck gibt, aber die extreme Rechte trotzdem wächst. Ein Essay von Jonas Schaible

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