KW 15 #Angeflanscht. Oder ‚Malen nach Zahlen‘ ist nicht kreativ

10. April 2015
Kreativität ist ein individuelles Produktionsnetzwerk, sagt Stephan Porombka. Foto: Im Studio des Berliner Stadtfotografen André Kirchner

‚Be creative!‘ Das sei, so erklärte der Kultursoziologe Andreas Reckwitz in seinem 2012 erschienen Buch zur Erfindung der Kreativität, der kategorische Imperativ unserer Zeit. Heute – so meine Wahrnehmung – hat sich die Lage etwas beruhigt. Kreativ-sein ist zwar noch hipp, aber der Wunsch, nicht kreativ sein wollen, sprengt nicht mehr die Grenzen des Verstehbaren (Reckwitz, S. 9). Das ist gut. Denn Kreativität macht sich denkbar schlecht als Selbstoptimierungsziel. Nicht jede/r kann und will schöpferisch Neues hervorbringen. Der eine baut lieber Muskelmasse als Eigenheime auf, die andere genießt lieber Kunst als sie zu erschaffen.

Das Abklingen des ‚kreativen Hypes‘ ist allerdings nicht das Ende vom ‚kreativen Missverständnis‘. Das erlebe in meinem Beruf tagtäglich aufs Neue. Der Ruf nach Kreativität erschallt immer dann, wenn die anderen ihr Werk vollendet haben: Ist die Lage sondiert, das Ziel definiert und der Weg skizziert, heißt’s: ‚Nun denk dir mal ein paar schöne Maßnahmen aus. ‚Ne nette Veranstaltung, ’nen innovatives Webformat oder ’ne hübsche Broschüre.‘ Ich könnte jedes Mal wahlweise heulen, schreien oder kotzen. Das hat nämlich mit Kreativität so viel zu tun wie ‚Malen nach Zahlen‘ mit Kunst – und sieht im Ergebnis auch keinen Deut besser aus. Angeflanscht bleibt angeflanscht.

Gute Ergebnisse entstehen dort, wo die ‚Kreativen‘ von Anbeginn mitdenken. Niemand macht das besser vor als der große – in anderer Hinsicht sicher weniger vorbildliche – kalifornische Hard- und Softwareentwickler. Hier arbeiten Programmierer/innen, Marketingexpert/innen, Interfacedesigner/innen, Psycholog/innen und andere Querdenker/innen von Anfang an zusammen. Das Ergebnis sind ‚mobile Endgeräte‘, die intuitiv, schön, State of the Art und entsprechend begehrt sind. Warum arbeiten nicht alle so? Das frage ich mich immer wieder.

Vielleicht weil’s ein Umdenken und eine große Offenheit erfordert. Kreative ticken anders. Sie lassen sich weniger von einem vorab definierten Ergebnisziel als vielmehr vom ‚Material‘ leiten, von all dem, was sie um sich herum vorfinden. Der ‚Twitterprofessor‘ Stephan Porombka hat das in seiner ‚Ökologie der Kreativität‚ sinngemäß mal so formuliert:Kreativität ist ein individuelles Produktionsnetzwerk, in dem jeder Zwischenschritt, jede noch so kleine Aktivität, jede Notiz oder winzige Idee wichtig sind. Wer Kreativität nur vom Ergebnis her denkt, kann nicht kreativ sein und nicht einmal mehr das kreative Scheitern produktiv wenden.‘ Das ist für uns ergebnisorientierte, in Projektstrukturplänen denkende Kopf- und Handarbeiter/innen eine ziemlich ungewohnte Arbeitsweise. Aber darum ist sie nicht falsch und das Ergebnis nicht schlechter. Es mag am Ende ein anderes sein als zu Anfang gedacht – doch im Zweifel ist es sogar besser: Apple ist kreativ beim Smartphone gelandet, Nokia ergebnisorientiert mit dem Mobiltelefon gestrandet.


In diesem Sinne ein kreatives Wochenende!

12 Comments

  • 9 Jahren ago

    reichlich spät komme ich zum lesen – und tu mir grade ganz ganz schwer mit dieser trennlinie, "Kreative ticken anders", hmhm, ja? ich glaub nicht so ganz dran; nein, vielmehr: ich glaube nicht an die möglichkeit einer festschreibung.

    • 9 Jahren ago

      was genau meinst du mit "einer möglichkeit der festschreibung"? vielleicht dass in (fast) jedem analytiker auch ein kreativer steckt? das würde ich teilen. aber dass es einen unterschied gibt, zwischen kreativem und analytischem u.a. arbeiten – dabei bleib ich 😉

    • 9 Jahren ago

      genau das, ja. zwischen kreativem und analytischem arbeiten – da setz ich ein rufzeichen darunter, zehn sogar. aber dass der eine mensch der ist, der andere der, der eine so tickt, der andere so, da vermute ich viel mehr durcheinander.

    • 9 Jahren ago

      ja, das vermute ich auch! … nein, eigentlich bin ich mir sicher. Genauso sicher, wie dass nicht jede/r Zugang zu ihrer/seiner "inneren kreativen bzw. analytiker/in" hat/haben kann/haben muss.

  • 9 Jahren ago

    Hmmm…was Du schreibst/zitierst stimmt irgendwie. Aber ich muss immer schmunzeln und vielleicht – ja vielleicht – nervt es mich sogar am Ende ein bisschen, dass seit längerer Zeit alles tot diskutiert wird… Ich lese solche Texte nicht mehr, weil sie mich mürbe mache! Ich denke nicht über alles nach, ich mache einfach und lasse mich von meiner Intuition leiten und habe 2 – 3 wichtige Menschen die ich (gelegentlich) um Rat frage und dann klappt´s am Ende oder es klappt mal nicht… Kreativität/Erziehung und weiss nicht was ist so was individuelles, ich finde es ermüdent darüber zu schreiben und noch viel mehr darüber zu lesen und nachzudenken! Aber jeder wie er mag.. : )

    • 9 Jahren ago

      Hmmm… so individuell finde ich diese Fragen nicht. Und ich finde es wichtig und richtig, um so entscheidende Fragen (auch öffentlich) zu "streiten" und "ringen".

    • 9 Jahren ago

      Ich sage ja, jeder wie er mag – ich finde es unglaublich ermüdend und meine Zeit ist mir zu wertvoll um darüber zu diskutieren und hinterher frustriert zu sein, in der Zeit bin ich lieber "tätig"… : ) Noch einmal: jeder wie er mag! ; ) Ich verurteile es nicht!

    • 9 Jahren ago

      😉

  • 9 Jahren ago

    Du sprichst mir so aus der Seele. Dass ist das, was ich auch tagtäglich erlebe. Und wo ich auch immer in den Tisch beißen könnte. Und mir so wünschen würde, dass es anders liefe. Alles dafür tue. Und gut zu wissen, dass es weitere Mitstreiter gibt. Und irgendwann, liebe Indre, müssen wir das zusammen machen… Alles Liebe, Stephanie

  • 9 Jahren ago

    Ja, da sprichst Du auch in meinem Namen. Ein Ergebnis zu "illustrieren" ist was anderes als gleich kreativ mitzuarbeiten. Leider sind die Besitzer des Produkts (gleich welcher Art) gerne auf alleinige Entscheidungshoheit aus oder sind nicht flexibel genug für Kreativität. Dabei ist es so ein spannender Prozess. Liebe Grüße, Sabine

    • 9 Jahren ago

      Das finde ich auch, immer wieder: ein spannender Prozess und oft auch ein tolles Ergebnis.

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