Identi – was? Von Hazel Rosenstrauch

10. Mai 2017

Vorweg: ich mag das Wort nicht und habe es erst kennengelernt, als ich anfing, Soziologie zu studieren. Schon im 2. Semester lernte ich, dass man so etwas haben muss. Auf Englisch war es leichter zu begreifen. »Do you have your ID?« war die Frage nach dem Ausweis. Ich musste mit der abgebildeten Person identisch sein. Das betraf Foto, Körpergröße, Augenfarbe. Fingerabdrucke gab es noch nicht, DNA kannte man auch noch nicht. Wer einen gefälschten Ausweis verwendete, musste sich Namen und Daten gut einprägen, um auf Nachfrage das zu sein oder vorzugeben, was auf dem Papier stand. Ich kannte noch Menschen, denen gefälschte Papiere das Leben gerettet hatten, wenn sie Müller statt Rosenzweig hießen und das »J« im Ausweis fehlte.

Als ich dann in Berlin Soziologie studierte, waren es Griechen, Spanier, Portugiesen, Chilenen oder Argentinier, die keine Identität hatten und ohne (oder mit falschen) Ausweispapiere aus ihren jeweiligen Diktaturen flohen. Das ist alles lange her und das Wort Identität hat seither eine große Karriere gemacht. Es gibt auch für die Identität viele unterschiedliche Definitionen, je nachdem, wer darüber redet. Staatsangehörigkeit, Sexualität, Religion oder Sprache, Geschichte und kollektive Erinnerungen fließen in die Beschreibungen ein, man müsste, bevor man den Begriff verwendet, zwischen verschiedenen Wissenschaften unterscheiden. Aber das ist zu kompliziert. Mir fiel der Unterschied zwischen Bezeichnung, die sich jemand anzog, und Person dahinter zum ersten Mal auf, als ich einen Jungen im T-Shirt mit der Aufschrift »Harvard-University« sah. Er war bestimmt kein Student, schon gar nicht aus Harvard.

Vielleicht hat die Identitätskrise der Spätmoderne ja mit dem Merchandising begonnen, weil man sich mit Geld alles kaufen kann {auch Pässe und wer sehr viel Geld hat, einen Fussballclub}.

Hazel Rosenstrauch

Im Alltag und in der politischen Propaganda wird das Wort gerne und oft als Ersatz für »Wurzeln« verwendet. Die »Identitären« signalisieren mit dem hübschen Fremdwort, dass sie zur gebildeten Mittelschicht gehören und mit … ja was? – mit sich und ihren Ideen von »Heimat-Freiheit-Tradition« identisch sind, also übereinstimmen (denn das bedeutet das Wort ja).

Identisch muss man sein, weil es so vieles Nicht-Identische gibt – einschließlich vieler Menschen, die mit sich nicht eins sind. Oder nicht nur eine Zugehörigkeit haben, weil sie da geboren, dort aufgewachsen und woanders hingezogen sind. Das Wort, das ohnehin vieles meinen konnte, hat sich vollgesaugt mit Gefühlen und hängt wie eine dunkelgraue, oder auch dunkelbraune, Wolke über Gesprächen, Selbstdarstellungen und politischen Programmen. Sein Gewicht wächst mit der Unübersichtlichkeit, den vielen Mischungen, Veränderungen und Unklarheiten. Deshalb sollen sich nun Einwanderer der dritten Generation entscheiden, ob sie türkisch oder deutsch sein wollen und meine Nachbarin, ob sie deutsch oder europäisch ist oder fühlt. Allerdings entkommen auch diejenigen, die sich an einem Baum, einer Scholle oder dem Ausweispapier festhalten nicht der Entwicklung zu noch mehr Facetten eines inzwischen fast schon »normalen« Lebens mit mehreren Zugehörigkeiten, Herkünften, Berufen oder auch Glaubensbekenntnissen.

Wenn ich jener Dame zuhöre, die jetzt so rechtsradikal für Heimat, Reinheit und Abgrenzungen plädiert, habe ich den Eindruck, sie könnte genauso energisch liberale oder feministische Phrasen von sich geben. Wie man ja oft bei Demagogen ahnt, dass Person und Worte nicht übereinstimmen. Bekanntlich haben auch jene jungen Männer, die sich mit einem Islam identifizieren, der Gewalt und Totschlag rechtfertigen muss, oft nur oberflächliche Kenntnisse des Koran. Auch im Ruf nach einer »europäischen Identität« steckt noch diese Wurzelbedürftigkeit. Die Schotten gehören zu Großbritannien, und auch falls Theresa May austritt, immer noch zu Europa, wenn auch vielleicht zu einem anderen Verein als Franzosen oder Tschechen.

Identität, die Übereinstimmung mit entweder dieser oder jener Zugehörigkeit, passt nicht zu den Verhältnissen von heute. Der Begriff hat sich verselbständigt und zu viel Macht gewonnen. Ich suche nach einem alternativen Fremdwort, das besser in die Zeit und zu den heutigen Verhältnissen passt. Mir geht die Integrität durch den Kopf, klingt ähnlich. Oder Integration? Noch besser gefällt mir das dazugehörige Verb: integrieren. Dabei denke ich nicht zuerst an Menschen, die vorher nicht »dazu« gehörten, sondern an den unabschließbaren Prozess, in dem im Laufe des Lebens unterschiedliche Eigenschaften, Gefühle und Zugehörigkeiten integriert werden. Man gewinnt damit keine Identität, aber im Glücksfall Persönlichkeit.


Hazel Rosenstrauch
Hazel Rosenstrauch hat von Februar 2017 bis Ende 2018 jeden 2. {manchmal auch 3.} Mittwoch im Monat auf M i MA mit kulturhistorischer Anteilnahme über das aktuelle »Weltgeschehen« geschrieben. → Mehr

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