»Ich lass das Loch einfach.« | Im Gespräch mit Melanie Garanin

23. Oktober 2017

Ihre Kerzentiere tragen die Erinnerung – leuchtend hell und in allen erdenklichen und undenkbaren Positionen. Es ist kein Leichtes, dieses große Licht zu tragen. Daraus machen sie keinen Hehl, ganz gleich wie groß oder klein, wie kräftig und wild, zart oder brav sie auch sein mögen. »Ein zartes, ehrliches und hoffnungsvolles Bild für die Trauer«, findet Pfarrerin Kathrin Oxen – ich auch.

Melanie Garanin weiß, dass der Tod uns allen früher oder später  irgendwie »Hallo« sagen wird. »Dann macht man die Tür auf und guckt, was zu tun ist.« Die Illustratorin, die mit ihrer Familie in einer Kleinstadt vor den Toren Berlins lebt, hat ihm schon einmal die Tür geöffnet und er nahm ihren jüngsten Sohn mit sich. Wie sich mit dem »Loch«, das er hinterließ, leben lässt, darum geht es unter anderem im heutigen Montagsinterview. Außerdem reden wir über die Kunst des Zeichnens bzw. die Haltung der/des Zeichnerin/s, über das Leben in einer brandenburgischen Kleinstadt und über die Dinge, auf die man sich in der dunklen Jahreszeit freuen kann.

Hab‘ vielen herzlichen Dank für dieses schöne Gespräch, liebe Melanie, mit dem ich allen einen guten Start in die 41. Woche des Jahres wünsche.

Du bist bald 20 Jahren als selbstständige Illustratorin tätig. Wenn du zurückblickst auf deine Anfänge, wie hat sich deine Arbeitsweise, wie die Branche verändert?

Ich hatte am Anfang meiner Illustratorentätigkeit auf jeden Fall eine ganz klare Vorstellung davon, was ich bin und was ich nicht bin. So sagte ich {sehr jugendlich und resolut}: Ich bin Illustratorin und zeichne für Geld. Für mehr als das reicht es nicht. Nicht um werweißwas zu verdienen, eher weil jemand sagt: Mach mal. Das kann ich, das ist gut so. Ich bin aber auf keinen Fall Künstlerin. Denn Künstler würden auch zeichnen, ganz ohne Druck und ohne Auftrag. Einfach, weil sie es wollen. Und ich will nicht. Was denn überhaupt? Und wann denn? {Mir war immer überwichtig, mich vom Künstlerin-sein abzugrenzen}. So war das in der Vergangenheit. Denn tatsächlich hat sich in mir drin etwas verändert, vor ein paar Wochen erst {!}.

Ich habe viele Anfragen für Illustrationsjobs abgelehnt in den letzten beiden Jahren. Ehrlich gesagt fast alle. Das hätte ich früher nie gemacht. Habe dann viel für mich {und meinen Blog} gezeichnet. Ich bin in der glücklichen Lage, dass mein Mann die Familie finanziell ganz alleine stemmen kann. Nur so kann ich mir das natürlich erlauben. Da bin ich sehr dankbar, denn das ist ja nun nicht selbstverständlich. Das, was ich mache, {denn ich „mache“ ja schon was…} trotzdem als wert-voll zu sehen, nur so vor mir ganz alleine, daran arbeite ich gerade. Am Selbstbewusstsein quasi.

Ich habe seit neuestem einen Kalender, mit dem ich mir selbst Termine setze und meine Arbeitszeit festlege und ich bestimme selber, was ich mache und was nicht. Vielleicht hat meine echte Selbstständigkeit gerade erst begonnen … ? Und vielleicht bin ich doch mehr Künstlerin, als ich immer dachte? Nein – ohne vielleicht. Ich bin mehr Künstlerin geworden. Eine großartige Veränderung, die vor allem in meinem Kopf stattfindet. Fühlt sich ganz gut an.

Ob sich die Branche in den letzten 20 Jahren verändert hat? Mmmh. Das kann ich schlecht beurteilen. Es gibt sicher viele, die meinen, es verändert sich gar nichts, immer noch zu viele Illustratoren für zu wenig Jobs, die Honorare immer noch zu niedrig, die Verträge immer noch unverschämt. Ich finde: Wir haben den schönsten Beruf der Welt, es gibt tausend wundervolle Möglichkeiten, zu illustrieren, die Welt ist bunt und es gibt für jeden einen Stift, einen Anspitzer und ein Radiergummi. Im übertragenen Sinn. Dazu noch die sozialen Medien, mit all den Fallen und Möglichkeiten….!? Jeder muss gucken, was er draus macht.

Meine »Sprach- und Schreiblehrerin«, für die ich einst als Bildredakteurin gearbeitet habe, hat mir beigebracht, dass eine gute Illustration den Text nicht einfach nur bebildert, sondern in den Dialog mit ihm tritt und so neue Bedeutungshorizonte eröffnet. Was macht für dich eine gute Illustration aus?

Ich finde, dass hat sie dir genau richtig beigebracht und dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.

Meine Lieblingsillustrationen sind solche, denen man ansieht, dass sie gezeichnet sind. Das ist Geschmacksache, aber ich mag die Verbindung von Kopf und Stift über Hand unmittelbar auf das Papier {ja gut… vielleicht auch auf das Tablet…} eben sehr. Ich finde, man sieht, ob der Zeichner mit dem Stift denkt oder ob er erst denkt und dann zeichnet. Im besten Fall entsteht dann nämlich eine Lebendigkeit in der Zeichnung, die ich sehr liebe. Aber eine gute Illustration ist natürlich an keine Technik gebunden. Und meine Vorliebe passt nicht in jeden Kontext. Ja, wahrscheinlich ist die Hauptsache, dass sie den Punkt trifft, um echt gut zu sein. Und keine Airbrush-Kitschi-Glitzi-Koloration hat.

Wer sind warum deine liebsten Zeichner/innen bzw. Illustrator/innen?

Tomi Ungerer. Mein Vorbild. Er war im Jahr 2000 mal mit einer Ausstellung in Berlin und ich habe mir ein Buch signieren lassen. Das tat er, sah mich an und sagte: Alles Gute. Hört sich jetzt nicht so spektakulär an. War es aber. Ich bin fast ohnmächtig geworden. Und habe jetzt noch Tränen in den Augen, wenn ich daran zurück denke. Er ist ein wahnsinnig guter Zeichner, ein verrückter Vogel, ein Genie. Dann habe ich noch etwa 167 weiter liebste Zeichner, die fange ich erst gar nicht an, aufzuzählen.


Ich mag die Verbindung von Kopf und Stift über Hand direkt aufs Papier.


Du lebst mit deiner Familie bei Falkensee in der Nähe von Berlin. Wie ist das Leben dort? Fühlst du dich manchmal „unterleuten“?

Das Leben in Falkensee ist gut. Grün, viel Platz und sehr nah an Berlin. Ich bin kein Falkensee-Patriot, aber es ist super für uns alle jetzt im Moment. Ich kannte dieses »Unterleuten« gar nicht… aber sollte es vielleicht mal lesen, habe nur kurz geguckt, worum es geht. Mmmh.

Wir haben hier in unserer brandenburgischen Kleinstadt in den letzten Jahren viele, sehr gute Freunde gefunden. Eine feine Mischung aus Zugezogenen, Einheimischen, Ex-Berlinern. Wer jetzt eigentlich was war oder ist, spielt keine Rolle. An Nachbarn und Mitbürgern ist von supernett bis total schräg und erschreckend bösartig alles in allen Facetten vorhanden. Wie in jedem Mietshaus in jeder Stadt, in jedem Dorf. Ich mag es nicht, wenn man einsortiert {wird} anhand seiner Herkunft. Oder seiner Sozialisierung. Das ist vielleicht hier ein wenig anders als in Remscheid-Lennep, aber sowas kann ja auch interessant und muss nicht doof sein.

Ich versuche, zu allen freundlich zu sein und erwarte es von jedem. Ziemlich schlicht, aber ich finde, es funktioniert meistens. JederfünftewählthierAfd. Dagegen kann man nur etwas tun, wenn man offen bleibt. Gerade den unmittelbaren Nachbarn Toleranz v o r l e b t.

Ich kenne nur den Tod der Großeltern, der schmerzhaft, aber tragbar für mich war. Der Tod der eigenen Kinder erscheint mir unerträglich. Im Juli 2015 ist dein jüngster Sohn gestorben. Wie gelingt es dir, mit Nils Tod zu leben?

Es gibt leider keine Alternative zu »Wie gelingt es, mit Nils Tod zu leben«. Die wäre ja, »mit Nils Tod nicht zu leben« oder, anders, »mit Nils Tod zu sterben«. Beides ist scheisse, also habe ich keine Wahl. Man kann aber zwischen »ok bis gut leben« und »schrecklich unglücklich leben« wählen. Ich hatte mir sehr früh geschworen, zu den Überlebenden zu gehören, die auf der Sonnenseite bleiben. Für meine Familie, meine Kinder und auch für Nils. Mir helfen Geschichten, meine Fantasie, mein religiöser Unterbau und das Zulassen von einer Prise esoterischen Dingsda {das sind zum Beispiel Wolken in Sprechblasenform oder das Rotkehlchen, das uns regelmässig stalkt}.

Nicht für jeden verständlich und ich mag diese Dinge auch nicht über die Maßen zerreden, damit sie nicht ihren Zauber verlieren. Aber ich glaube fest daran, dass nicht alles vorbei ist, mit dem Tod.

Dass man den Schmerz über den Verlust überwindet, dass es irgendwann erträglich wird, denke ich nicht, will ich eigentlich auch gar nicht. Ich will nicht abstumpfen, keine hässliche Narbe kriegen. Ich lass das Loch einfach. Und lebe damit.

Welchen Stellenwert hat der Tod deiner Erfahrung nach in unserer „Welt“? Und welchen sollte er haben können, damit man besser mit ihm leben kann?

Man schweigt den Tod ganz gern tot. Vor allem, wenn man ihn nicht kennengelernt hat. Sobald man muss, so ist meine Erfahrung, beschäftigt man sich ganz automatisch mit ihm. Ist bei mir ja auch so gewesen. Er setzt so viel frei an Kraft, an Ehrfurcht und Energie. Und ja, dann kann man tatsächlich besser mit ihm leben. Weil man ein winziges bisschen Angst verliert vor ihm. Aber wenn man nicht muss, spricht auch nichts dagegen, den Tod erst mal draußen zu lassen. Finde ich. Früher oder später wird er bei jedem in irgendeiner Form »Hallo« sagen kommen. Freundlich, erschreckend, grausam, schleichend oder gnädig. Dann macht man die Tür auf und guckt, was zu tun ist.

Das Jahr 2017 neigt sich langsam dem Ende zu. Worauf freust du dich in den letzten rund 10 Wochen dieses und im kommenden Jahr besonders?

Das ist jetzt komisch. Gerade antworte ich so, als wäre ich die TrauerTodBewältigerin des Monats und nun muss ich gestehen, dass die spontane Antwort auf die Worauf-freust-du-dich-Frage, ist, dass es in der Zukunft auf den ersten Blick nichts gibt, worauf ich mich freue, weil das Beste einfach für immer weg ist. Haha. Toll. Erwischt. Aber auf den zweiten Blick. Auf Weihnachten freue ich mich nie {das war schon immer so}, eigentlich nur der Kinder zuliebe.

Ok, dritter Blick: Ich freue mich auf meine Arbeit. Ich habe ein sooo tolles Projekt. Am liebsten würde ich den ganzen Tag in meinem Arbeitszimmer sitzen und es weiter ausbrüten. Und ich freue mich, dass mein großer Sohn sich freut, im Januar für ein halbes Jahr nach Neuseeland zu gehen. Und dass meine Tochter sich auf ihr Pferdepraktikum freut. Auch im Januar. Alles sehr aufregend! Ich freue mich auf den neuen Geschirrspüler am Montag, nach wochenlangem Spülen mit der Hand. Auf ein paar Konzerte und Ausgehabende in Berlin. Überhaupt auf mehr Stadt. Und jeden Abend auf mein Bett und den Schlaf. November bis Januar ist aber auch echt eine Herausforderung, Vorfreude zu empfinden, also ehrlich.

dat aaame Dier, Melanie Garanin

11 Comments

  • 6 Jahren ago

    Feinfühlig gefragt.
    Tapferzart geantwortet.
    Fließt dieses Gespräch.
    LebensWeise. Jedes Wort wahr.
    Persönlich.
    Großartig!
    Danke.

  • 6 Jahren ago

    Mir hat es auch gefallen, dieses Frage-Antwort-Miteinander!

  • 6 Jahren ago

    Was für schöne und feinfühlige, aber direkte Fragen, und was für schöne und durch und durch garaninsche Antworten! Danke, ihr beiden, das war sehr schön zu lesen, wie ein ganz wunderbar abgestimmter Pas de deux.

    Liebe Grüße
    Maike

  • 6 Jahren ago

    Merci! Und viele liebe Grüße aus der Kälte…

  • 6 Jahren ago

    bei melanie verstumme ich ja immer vor erfurcht – deshalb ist dieser kommentar ganz leise…

    aber immer: WOW!

  • 6 Jahren ago

    So schöne Antworten. Habe ich von M. G. aber auch nicht anders erwartet. Neben allem anderen gefällt mir die Reaktion auf das „Landleben“ sehr gut. Man wird in der Tat sehr schnell „einsortiert“ von „Städtern“ wenn man erzählt, dass man auf dem Lande wohnt. Und ich muss zugeben, dass ich gerade in Berlin – die Stadt die sich als multikulti und weltoffen sieht – die grösste Intoleranz gegenüber Menschen vom Lande erlebt habe!

  • Katrin
    6 Jahren ago

    Pina Bausch sagte einmal, es geht nicht um Kunst oder bloßes Können, sondern um das Leben und dafür eine Sprache zu finden. Melanie Garanins Sprache schätze ich so! sehr.
    Danke für dieses wundervolle Interview!

    Liebe Grüße an Euch,
    Katrin

  • 6 Jahren ago

    Ganz Melanie, wunderbar. LG Ghislana

  • 6 Jahren ago

    Ein ganz wunderbares Interview. Vielen Dank dafür an euch beide!

  • 6 Jahren ago

    Liebe Indre, liebe Melanie, danke für dieses sensible Interview. Da ich auch Melanies Blog seit langem folge, den AndereZeiten-Kalender vom letzten Jahr hatte, sind sie und ihre Kerzentiere mir nicht fremd. Was ich jetzt besonders interessant finde, ist in diesem Zusammenhang auch der Blick auf ihre künstlerische Arbeit, ihre Klarheit (zu wissen und zu sagen, was man will und was man nicht will ist wertvoll!) und ihre Entwicklung zur Haltung der Künstlerin. Denn das ist sie. Ganz sicher. Ich liebe z.B. auch ihre 12 vom 12.
    Zu Weihnachten habe ich eine ähnliche Haltung und freuen auf die dunkle Jahreszeit geht wahrscheinlich mit Kerzentieren etwas besser. Alles Liebe Euch beiden! Sabine

  • 6 Jahren ago

    Dankeschön!

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