Fake Reality | von Hazel Rosenstrauch

8. November 2017

Bis vor kurzem war es beruhigend, dass ich zwei Staatsbürgerschaften besitze – eine von einem kleinen, für die Weltgeschichte eher unbedeutenden Land (Österreich) und eine von dieser als liberal bekannten Großmacht (Großbritannien). Dann kam die Abstimmung für einen Brexit und demnächst bekommt Österreich eine Regierung, in der sich meine »Landsleid« von einer ultrarechten deutschnationalen Partei führen lassen.

Mit Speck fängt man Mäuse, mit Angstszenarien Wähler. Die beängstigende Entwicklung, nicht nur in England und Österreich, rückt mir auf die Pelle, seit auch im engeren Freundeskreis die gemeinsame Sprache für eine gemeinsam, oder doch ähnlich wahrgenommene Realität verloren geht.

Ich habe keine Antwort, kein Rezept, noch nicht einmal eine Theorie, die mich beruhigen könnte, erst einmal will mich nicht verrückt machen (lassen) und weder aufs Altenteil noch in die Resignation zurückziehen. Ein bisschen mehr Klarheit im Kopf könnte helfen.

»Heut‘ mach ich mir kein Abendbrot, heut‘ mach ich mir Gedanken«, sagte irgendwann in der 1960er Jahren Wolfgang Neuss.

Da ich mich gern vom Besonderen zum Allgemeinen bewege, und nicht umgekehrt, wie ich es in der Soziologie gelernt habe, denke ich an die Erfahrung mit einem Freund: Sein Umdeuten von Geschichten entsprang dem Bedürfnis, sein Selbstwertgefühl zu stärken. Fake-Reality im Kleinen. Früher haben wir argumentiert, gestritten, Meinungen ausgetauscht. Inzwischen sagt der einst gute Freund: »Das ist nun mal so.« Da habe ich Watzlawicks »Anleitung zum Unglücklichsein« aus dem Bücherschrank gezogen und wiedergelesen, wie verbreitet die Lust am Unglück ist, und wie sich Leute ihre Umwelt inszenieren.

Fakes – nicht nur als »News«, sondern mehr oder weniger willkürlich interpretierte Geschichten, greifen um sich wie eine Krankheit, – und ich spreche nicht nur von diesem blondierten alten Herrn mit der Befehlsgewalt eines Weltherrschers. Was nicht sein soll, ist nicht wahr. Was nicht sein soll, ist nicht wahr. Die Welt und die Gefahren aus einem Punkt erklären, Schuldige finden und schnuckelige Lösungen anbieten, gehört zum Werkzeug jener Verführer, deren Wahlsiege ich bedrohlich finde.

Und dann stoße ich auf diesen Satz: »Wie sinnvoll ist die Rede von Realität heute noch?« Der steht nicht in einem Comic oder einer Glosse, sondern in dem Programm eines interdisziplinären wissenschaftlichen Symposiums, in dem von einer Krise des Realen und der Realität die Rede ist: Wahrheit, Wirklichkeit und Fakten stehen nicht nur in esoterischen Zirkeln zur Disposition, die Debatten über Dekonstruktion sind in den Alltag eingedrungen und Gemeingut geworden.

Wortschöpfungen wie »Post-Truth«* und »Truism« entspringen dieser Krise. Ich habe sie von einem Nerd gelernt, der vor Jahren in seinen Rollenspielen (LARP) und Phantasy-Welten unterzugehen drohte. Ich hatte damals den Eindruck, dass er sich mit diesen Spielfiguren verwechselt und erzählte ihm, wie das mit Hexen und Leibeigenen, der Verfolgung von Außenseitern, Hunger und Dreck und allumfassender Befehlsgewalt der Landesherren war. Er konterte: »Wer sagt dir, dass deine Welt wirklicher ist als meine?« Gegen die Faszination der Kostüme und Schwerter und aufregenden Abenteuer hatte ich natürlich keine Chance. (Heute sehe ich das lockerer.)

Ich höre oft Nachrichten, die ich nicht überprüfen kann. Steht damit Wahrheit zur Disposition oder ist dieser Relativismus die Kehrseite der Demokratisierung von Wissen? Jeder kann senden, jeder kann klicken, und so vermehrt sich eben auch jeder Blödsinn. Aber dann fällt mir der Volksempfänger ein, er hat nur die eine Stimme des Führers erlaubt – und die breite Mehrheit des deutschen Volkes erreicht. Ich denke an Madame Bovary und all die anderen literarischen Figuren, die aus ihrem langweiligen Leben in Einbildungen flüchten. Lügen wir uns nicht alle die Wirklichkeit zurecht, wenn sie zu hässlich, gar unerträglich wird?

Es ist vor allem wichtig zu unterscheiden, ob ein Führer in zerstörerischer Absicht (oder ein börsennotiertes Unternehmen in gewinnorientierter Absicht) Unwahrheiten verbreitet, oder ein unglücklicher Mann sich selbst in die Tasche lügt.

Und: Vorsicht vor Verallgemeinerungen, auch wenn es viele Gründe gibt, Ängste zu haben: Die Angst, sich die Wohnung nicht mehr leisten zu können, den Job zu verlieren, von dunklen Männern vergewaltigt zu werden oder im Sturm einen Baum auf den Kopf zu bekommen. Jetzt ist es der Islam. Früher war es die rote Gefahr; davor waren die Juden, die Freimaurer oder die jetzt wieder aktuelle gelbe Gefahr gern genutzte Angstmacher. Gefährlich wurde es immer dann, wenn gewandte Redner und Schreiber, Politiker und Parteien diese Ängste für sich nutzen konnten.

Radikale Stimmungsumschwünge hat es in der Geschichte immer wieder gegeben, ob unter den einst so aufgeklärt rebellischen Frühromantikern oder unter geistreichen Intellektuellen der 1920er Jahre. Wenn die großen Zweifel mich befallen, denke ich daran, dass es auch immer Individuen gegeben hat, die ähnlichen Epidemien widerstanden haben. Außerdem treffe ich ständig tolle junge Leute, die sich mit Trollen und Verschwörern auskennen und nicht so schnell beeindrucken lassen. Deshalb schieße ich diese allmähliche Verfertigung eines Gedankens mit einem Zitat:

»Geschlagen ziehen wir nach Haus, heia oho! Unsre Enkel fechtens besser aus. Heia oho!«

Das stammt aus dem Bauernaufstand 1524/1525… hübsch, auch wenn es der Realität dieser Zeit nicht gerecht wird. Ich werde Wolfgang Neuss Rat noch öfter folgen, vielleicht doch auf eine Demo gehen, mit Freunden streiten und erzählen, wie gut so ein Abendbrot schmeckt.


*Die Oxford Dictionaries haben das Wort »post-truth« 2016 zum Wort des Jahres gewählt.

Beitragsbild: Günther Dillingen via Pixabay

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