Ein Blick hinter ‚Werden und Sein‘

17. März 2015

Vor einiger Zeit habe ich hier ein paar meiner ‚Pop‚-Heldinnen vorgestellt. Seither gehe ich mit der Idee schwanger, eine ‚Liste‘ meiner ‚Alltags-Heldinnen‘ zu veröffentlichen. Sollte ich das je in die Tat umsetzen, wird Tina auf jeden Fall dabei sein. Ich kenne nicht viele Menschen, die mit ihrem – alles andere als komfortablem – ‚Schicksal‘ einen so versöhnlichen Umgang gefunden haben wie sie. Dabei hätte, wer ohne Vater mit einer quartalssüchtigen Mutter aufgewachsen ist und sie aus guten Gründen schließlich verlassen hat, allen Grund zum Hadern und Greinen. Doch davon ist Tina weit entfernt. Aus ihren Worten klingt eher so etwas wie Überrascht-sein heraus – überrascht darüber, wie das Leben so spielt und einem mitspielt und am Ende doch immer eine Blackbox bleibt: Egal was man vorne hineintut, man weiß einfach nicht, wie’s hinten rauskommt.

In unserem Montags-Dienstagsinterview geht es um Kindsein und Kinderhaben, um Elternschaft und Familienmodelle, um Rollen und das Ringen um den besten Weg unter den gegebenen Bedingungen.

Vielen, vielen Dank, liebe Tina, für die offenen Antworten, mit denen ich allen – zwar verspätet, aber umso mehr – einen guten Start in die neue Woche wünsche.
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Foto: Tina | Werden und Sein
Du hast – von Außen betrachtet – eine ziemlich turbulente Kindheit gehabt. Aufgewachsen bei einer alleinerziehenden Mutter mit Alkoholproblem, kamst du fünfjährig zu Pflegeeltern. Kannst du dich erinnern, wie du deine frühe Kindheit als Kind wahrgenommen hast? (Zum Verständnis: Kinder nehmen die Welt – und sei sie noch so verrückt aus Erwachsenenperspektive – oftmals einfach als gegeben hin. Und ich frage mich, wie sich das „anfühlt“.)
Tatsächlich nahm ich meine Kindheit als gegeben hin – die Bewertung folgte erst viel später. Ich kann mich nicht erinnern, als Kind bei meiner Mutter unglücklich gewesen zu sein. Ich habe meine Mutter sehr geliebt, selbst in den Gerichtsakten stand, dass wir eine gute Bindung zueinander hatten. Ich verbrachte sehr viel Zeit draußen, wir hatten da eine kleine Kinder-Clique. Heute kaum auszudenken, dass Vier- oder Fünfjährige alleine draußen rumfetzen. Ich war viel auf dem angrenzenden großen Spielplatz und ging sowohl alleine zu meinem Sandkastenfreund, der drei Straßen weiter wohnte, als auch zum wesentlich weiter gelegenen Kindergarten. Zudem kaufte ich den Alkohol für meine Mutter im kaum entfernten Kiosk.
Wieder kaum vorstellbar, für mich war es normal. Schmerzhaft war dann der Moment der Trennung, den ich mehrfach erlebte, bewusst das erste Mal, als sie während einer meiner Einkaufstouren zusammenbrach und mich nicht mehr einließ, dann als ich nach 9 Monaten Pflegefamilie zu ihr zurückkehrte und keine zwei Monate später vom Jugendamt inklusive Polizei aus der Wohnung geholt wurde. Das war bereits als Kind sehr unschön.
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Was bedeutet es für ein Kind, alkoholkranke Eltern zu haben?
Diese Frage spricht gleich mehrere Aspekte an. Es gibt viele verschiedene Arten von Alkoholismus, meine Mutter war eine ‚Quartalssäuferin‘. Sie hat mich grob vernachlässigt, wenn sie ‚drauf‘ war. Ich war viel allein, litt Hunger und Durst, ich erinnere mich nicht an das Gefühl, aber wie ich versuchte, mir Essen und Flüssigkeit zu besorgen. Ich betone nochmals, es gibt viele verschiedene Arten von Alkoholismus und es liegt mir fern, Kindesvernachlässigung pauschal damit in Verbindung zu bringen.
Dass ich als Kind nicht stark genug war und ihr sogar den Alkohol besorgte oder co-abhängig alles dafür tat, dass sie nicht aufflog, hat mich lange in innere Konflikte gebracht, bereits als Kind. Ich schwor mir, sobald ich 18 bin, ziehe ich zu ihr und rette sie. Man kann sich vorstellen, dass ich kläglich gescheitert bin. Es hat mich viel Zeit gekostet, die angesammelte Schuld loszuwerden.
Neben der Vernachlässigung und der Schuld gibt es noch den Aspekt des Getrennt-seins, darunter habe ich gelitten, obwohl ich in eine gute Pflegefamilie kam. Das mag jetzt unverständlich sein, aber zum einen war sie meine Mutter und zum anderen war sie eine intelligente, charismatische und unglaubliche Frau und ich hatte trotz allem immer das Gefühl, dass sie mich liebt.

Weißt du, was mit deinem leiblichen Vater ist? Und hast du zu deinen leiblichen Eltern noch Kontakt?
Zu meiner Mutter hatte ich einen relativ guten Kontakt bis ich 21 Jahre alt war. Als sie wieder einen Rückfall hatte und mich abermals grob belog, wachte ich plötzlich auf und brach den Kontakt ab. Das ist bis heute so und wird vermutlich so bleiben, nicht, weil ich böse auf sie bin, aber ich muss mich schützen. Wer mein „echter“ Vater ist, erfuhr ich erst mit sechs Jahren. Wir trafen uns einige Male, bis er diese Treffen aus mir unerklärlichen Gründen nicht mehr verfolgte, um sich dann unzuverlässig alle 8 bis 10 Jahre zu melden, wo ich ihm immer einen Korb gab. Als ich 31 war, hatten wir ein wenig Kontakt, aber – viele Lügen – es geht einfach nicht.
Unterscheidet sich dein Verständnis von ‚Eltern‘ vom allgemeinen Elternbild, in dem die ‚biologische Elternschaft‘ maßgeblich ist?
Wahrscheinlich. Ich bin der Meinung, Kinder brauchen grundsätzlich feste Bezugspersonen. Dass ich in einer Pflegefamilie groß wurde, welche mich als eigenes Kind annahm, hat mich sicherlich auf vielen Kanälen gerettet. Dennoch: Die leiblichen Eltern sind meiner Meinung nach unersetzlich und man darf den Schmerz einer dauerhaften! Trennung nicht unterschätzen.
Du lebst seit einiger Zeit getrennt. Dein Mann und du habt entschieden, dass die Kinder bei ihm bleiben – ein Weg, der nach wie vor ungewöhnlich ist. Wie waren und sind die Reaktionen auf eure Entscheidung (neben den sehr positiven, die man auf deinem Blog lesen kann)?
Die häufigste Reaktion ist: ‚Also ich könnte das nicht.‘ Einige in meinem Umkreis haben berichtet, wie sie zunächst ’schlucken‘ mussten, als sie hörten, was los ist. Viele hinterfragen ihre eigene Reaktion und ich finde sie menschlich. Toll ist, wenn man das für sich selbst anschauen und hinterfragen kann.
Mir werden viele Fragen gestellt, kommen diese ohne Wertung daher und habe ich das Gefühl, mein Gegenüber ist offen, beantworte ich sie gerne. Dogmatische Meinungen, wie dass ich einen riesengroßen Fehler mache, meine karmischen Gesetze verletze, dass ich so etwas einfach nicht tun darf, dass man hofft, meine Kinder überstünden das unbeschadet, begegnen mir aber leider auch.

Was sind die größten Herausforderungen für dich als Teilzeit-Mama? Was genießt du vielleicht auch an der neuen Situation?
Ich habe ein wenig Zeit gebraucht, um nach der Trennung ‚runterzukommen‘. Als der organisatorische Teil, der mit so einem Umzug einhergeht, hinter mir lag, setzte das große Vermissen ein, ein körperliches Vermissen, das weh tut. Ich weiß, dass der Papa seinen ‚Job‘ wirklich gut macht, was mir sehr hilft und mich loslassen lässt – dennoch stellt es mich regelmäßig vor Herausforderungen. Mit den Reaktionen umzugehen, mit subtilen Anmerkungen, ich sei unnormal oder eine Rabenmutter, das prallt nicht so einfach an mir ab.
Durch die neue Situation habe ich viel mehr Zeit, die ich frei gestalten kann. Ich habe in der Arbeit aufgestockt, was mir ermöglicht, Projekte zu übernehmen, die mir als 50%-Kraft nicht zugemutet wurden. Ich widme mich wieder dem Sport. Das ist nett.
Meinst du, für Männer ist die Rolle als Teilzeit-Papa leichter, weil sie gesellschaftlich anerkannter resp. normaler ist?
Das möchte ich so pauschal nicht mit Ja beantworten. Die Gesellschaft hinterfragt Teilzeit-Väter nicht besonders und wenn, dann zu Lasten der Mutter. Ist der Vater engagiert, wird das positiv honoriert, was ich wiederum positiv und unkritisch sehe. Jaaaa, Mütter leisten den Job tagtäglich, aber wenn wir eine Änderung herbeiführen wollen, dann sollten wir auch kleine Fortschritte sehen und honorieren.
Auf der anderen Seite lerne ich immer mehr Väter kennen, die nicht mehr nur ‚Ernährer‘ sein wollen, sondern Zeit mit ihren Kindern verbringen, sie aufwachsen sehen wollen und die einen Großteil der Familienarbeit übernehmen. Wie mag es diesen Vätern gehen, wenn sie im Falle einer Trennung nur noch jedes zweite Wochenende ihre Kinder sehen? Klar kann man das anders gestalten. Aber es ist schwierig, eingefahrene Muster zu durchbrechen und etwas andere Wege zu gehen. Auch Väter verspüren einen Schmerz im Falle einer Trennung. Oft wird ihnen unterstellt, dass sie damit viel besser zurechtkommen. Das mag manchmal der Fall sein, aber oft arrangieren sich diese Väter nur. Männer gehen anders mit Gefühlen um, dennoch haben sie welche.
Was ich sagen will: Wenn sich der Vater an das bekannte Teilzeit-Papa-Modell hält, hat er es sicher leichter. Will er mehr, dann rennt auch er gegen Hürden ganz unterschiedlicher Art an, die es zu bewältigen gilt. Und das ist dann wirklich nicht einfach.
Was wünscht du dir in deiner neuen Lebenssituation gerade am allermeisten?
Ich wünsche mir, dass wir unseren Kindern trotz unserer Situation die nötige Sicherheit geben, dass wir Eltern für sie da sind und sie vertrauensvoll aufwachsen. Ich wünsche ihnen eine seelische Stärke, die es ihnen ermöglicht, für sich selbst einzustehen, kluge Entscheidungen zu treffen und sich von Kleinigkeiten nicht umwerfen zu lassen. Ich wünsche, dass sie in Summe glücklich sind.
Im Grunde bin ich ganz zuversichtlich: Wir wohnen nicht mehr zusammen – ja, aber die Kinder haben uns immer noch beide und insgesamt haben wir alle einen guten Kontakt zueinander. Das ist so viel mehr, als ich hatte und ganz unbescheiden: so verkehrt bin ich nicht geworden.

7 Comments

  • 9 Jahren ago

    Ein mich nachdenklich machendes Gespräch. Offene Frage, offene Antworten…anders. Danke dafür.

  • Anonym
    9 Jahren ago

    Eine tolle, mutige Frau – Chapeau liebe Tina! Und dir, Indre, danke für all die Lebensgeschichten mit Ecken und Kanten, jenseits des allgemein gültigen Moralkodex. Sie machen Mut und sind so wichtig. Und nicht zuletzt sind sie eben auch irre spannend.

    Danke sehr. LG Katja

  • Danke für diese so offenen Antworten auf diese so intelligenten Indre-Fragen. Ich habe gebannt gelesen. Alles Liebe für dich, Tina. Viele liebste Grüße
    Eva

  • 9 Jahren ago

    Wieder so ein Interview, was unter die Haut geht und nachhallt. Alkoholkrankheit hat ja oft Ursachen, ich finde es wunderbar, wie Tina trotz der Alkoholkrankheit mit viel Respekt über ihre Mutter spricht. Ich habe eine Freundin, die ebenfalls ihre Söhne beim Vater zurückgelassen hat, jeder muss das für sich ganz persönlich entscheiden, Gründe dafür sind vielfältig. LG Lotta.

  • 9 Jahren ago

    Vielen Dank für dieses ehrliche und tiefgehende Interview. Tolle Fragen und nachdenkliche Antworten.

    Liebe Grüße
    Dina

  • 9 Jahren ago

    Ein wirklich schönes Interview! Ich bin immer wieder erstaunt, mit welcher Vehemenz Menschen glauben zu wissen, was im Leben anderer das Richtige ist. Ich wünsche Tina viel Glück auf ihrem Weg und viel Kraft für den Gegenwind von außen! Ich finde ihre Offenheit sehr mutig. Auf deine Alltagshelden wäre ich sehr gespannt, liebe Indre. Vielen Dank euch beiden!
    Liebe Grüße, Annett

  • 9 Jahren ago

    Vielen Dank für dieses schöne und so wichtige Interview! In letzter Zeit lese ich komischerweise immer mehr von getrennten Eltern und deren weitere Familienmodelle. Und auch immer wieder von Kindern, die bei ihren Vätern leben.
    Auch ich gehöre zu denjenigen, die erstmal denken würden "ich könnte das nicht (großteils ohne meine Kinder leben)". Das liegt sicherlich mit daran, dass ich sowieso schon viel mit den Kindern alleine lebe, weil mein Mann sehr oft geschäftlich verreisen muss. Aber ganz klar ist diese Entscheidung, ob die Kinder bei Mutter oder Vater bleiben, situationsbedingt! Wer sagt denn eigentlich, dass es bei der Mutter immer geeigneter ist?? So viele Faktoren spielen dabei eine Rolle.
    Hut ab vor dem Elternteil, der – warum auch immer – zurückstecken muss. Neu gewonnene Freiheiten hin oder her – die anfänglich leere Wohnung bleibt und macht Mann UND Frau zu schaffen.
    Ich habe großen Respekt vor allen Eltern, die es schaffen, für ihre Kinder eine gute Lösung zu finden und eine gute – wenn auch getrennte – Familie zu bleiben.

    Liebe Grüße
    Katja

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