Aus dem Kurtagebuch*. Oder wie ich unfreiwillig zur Gesprächsteilnehmerin und schrecklich wütend wurde

5. Februar 2018

Das Frühstück ist weniger reglementiert; die Sitzordnung darf aufgehoben und die sonst strikte Stunde beliebig verlängert werden. Anders als beim Mittag- und Abendessen können wir also noch lange sitzen bleiben und plaudern. Eine Freiheit, die ich nicht zu schätzen weiß. Lieber ziehe ich mich sofort nach der Mahlzeit in mein Zimmer zurück oder laufe alleine durchs Moor.

Als ich an jenem Morgen in den Speisesaal komme, ist mein angestammter Platz besetzt, was mich unerwartet durcheinander bringt. Umsetzen bedeutet neue Begegnungen und andere Gespräche; darauf bin ich weder vorbereitet noch erpicht. Einen Moment überlege ich, das Frühstück aufs Zimmer zu nehmen, besinne mich dann aber eines anderen und nehme spontan am Nebentisch Platz, wo eine angeregte Diskussion geführt wird. »Die meisten Frauen arbeiten Teilzeit«, bemerkt eine der älteren Frauen, »und wenn’s schiefgeht, stehen sie mit nichts da.« »Die Männer«, pflichtet ihr eine andere bei, »verdienen so viel mehr; es macht gar keinen Sinn, dass sie ihre Stelle reduzieren und sich mehr um die Kinder kümmern.«

Die Diskussion kreist eine Weile um die ungerecht-ungleiche Entlohnung, wegen derer Frauen in die Teilzeitfalle und in die Armut getrieben würden. Dann geht es wieder um die Rolle der Frau*: Es seien eben doch mehrheitlich die Mütter*, die ihre (beruflichen) Ambitionen hintan stellten, um sich um die Kinder zu kümmern. »Und das gehört sich auch so!«, ruft jene, die sich eben noch über die Teilzeitfalle empörte. Niemand widerspricht, niemand hakt ein. Ich auch nicht.

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Später richtet sich die Diskussion auf die Situation der Alleinerziehenden. »Als ich in Gegenwart meines Bruders einmal sagte, dass ich mir mehr Unterstützung vom Staat wünsche«, erzählt die alleinerziehende Mutter dreier Kinder, »erwiderte der: ‚Nun sollen die Steuerzahler auch noch für deine Blagen zahlen?’« 

Es liegt kein Groll in ihrer Stimme, wohl aber eine gehörige Portion Abgeklärtheit. »Die Leute vergessen gerne, dass es diese ‚Blagen‘ sind, die später ihre Rente mitfinanzieren«, merkt eine der Frauen an und eine Dritte ergreift energisch das Wort: Obgleich die Zahl der Alleinerziehenden immer größer würde, seien sie für die Politik ein Nichts; niemand würde etwas für sie tun.

Ich überwinde meine Sprachlosigkeit und verweise auf die zwar noch zarte, aber wachsende und durchaus wirksame Lobby der Alleinerziehenden. Dank des unermüdlichen Einsatzes von Frauen wie Christine Finke (Mama arbeitet), Alexandra Widmer (Stark und alleinerziehend) oder Susanne Triepel (notyetaguru) würde sich doch was bewegen. Ein kurzes Raunen geht durch die Runde: Davon hätten sie noch nie gehört. Doch das Interesse ist von kurzer Dauer. Die Aufmerksamkeit richtet sich sogleich wieder auf die unerträgliche Lebenssituation, die – so die einhellige Meinung – ohnehin nur verstehen könne, wer selbst alleinerziehend (gewesen) sei.

»Wir maßen den Wert eines Menschen an seiner Leistung, seinen Taten und Werken. Dieser Realismus hatte sein Gutes; aber unser Irrtum lag in dem Glauben, dass die Freiheit der Wahl und des Handelns bei jedermann zu finden sei.« Simone de Beauvoir

Die unfreiwillige Gesprächsteilnahme hängt mir nach. Die Widersprüchlichkeit und defensive Empörung über die bestehenden Ungerechtigkeiten machen mich wütend. Und mit meiner Wut fühle ich mich wiederum ungerecht und arrogant (hab ich in meiner privilegierten Situation ja gut reden). Nicht jede*r hat Gestaltungsmöglichkeiten und selbst wenn,  kann sie*/er* diese nicht notwendigerweise auch erkennen und nutzen. Zu meiner Zwiespältigkeit gesellt sich Ratlosigkeit: Was tun, wenn eine*r eine ungerechte, ja falsche Situation richtigerweise nicht hinnehmen will, aber nicht willens bzw. in der Lage ist, das ihr*/ihm* Mögliche zu tun, um sie zu verändern (indem sie/er* sich z.B. informiert, vernetzt, verbündet)? Weder mein Schweigen noch wohlmeinende Besserwisserei scheinen mir ein nützlicher Weg zu sein, denn:

»Wir können nur werden, was wir uns auch vorstellen können.« Laurie Penny

Vielleicht sollte ich das nächste Mal Geschichten von Frauen* und Männern* erzählen, die ungewöhnlich gute (Aus)Wege (er)fanden?

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*Es ist gut möglich, dass es über diesen einen Tagebucheintrag nicht hinauskommt.

6 Comments

  • 6 Jahren ago

    Oh Wut. Schön, wie Du dieses Ereignis schriftlich verarbeitet hast.
    Und: kommen eigentlich irgendwo auch die Kinder von Alleinerziehenden zu Worte?
    Vielleicht sollte ich das einmal ergreifen.. Ich habe irgendwo einmal einen Artikel gelesen, dass es um Kinder von alleinerziehenden Frauen mit Migatiosnhitergrund richtig richtig schlimm steht, 99% davon sollen angeblich quasi in der Gosse landen… das hat MICH wütend gemacht und ich konnte nichts dagegen tun.
    Ja, „Geschichten von Frauen* und Männern* erzählen, die ungewöhnlich gute (Aus)Wege (er)fanden?“ finde ich einen guten Weg.

    • M i MA
      6 Jahren ago

      Hier konnten keine Kinder zu Wort kommen, da es ja eine Kur ohne Kinder ist. Aber ja, ich finde, sie sollten unbedingt zu Wort kommen. LG I.

  • Anna
    6 Jahren ago

    Mir kam gerade beim Lesen in den Sinn, dass „sich gemeinsam zu beschweren“ ein sozialer Kleister ist, der diese Runde zusammen hält. Das hat sich für sie bereits bewährt. Gemeinsam gegen Probleme vorgehen ist Neuland und würde diese Runde eventuell in ihrer Einigkeit stöhnen.
    Aber so ändert sich leider nichts. Alle außer dir hatten aber eventuell das gute Gefühl nicht allein mit ihrer Meinung zu sein.
    Ich hoffe für dich auf eine angenehmere Gesprächsrunde für kommende Mahlzeiten.
    Lg Anna

    • M i MA
      6 Jahren ago

      Liebe Anna,

      Danke für deinen guten Gedanken, mit du vermutlich recht hast. Gleichgesinnung, Verständnis und Einigkeit tut ja durchaus auch gut und sollte jede*r erfahren dürfen. Nur wenn’s zur Bequemlichkeit wird, wird’s eben problematisch.

      Liebe Grüße
      I.

  • 6 Jahren ago

    Ach Indre, schon wieder einmal zum richtigen Zeitpunkt. Genau das Gleiche dachte ich gestern, bei einer vollkommen anderen Diskussion, bei der es aber auch um Ungerechtigkeiten und Chancen ging. Bilder und Identitäten, inzwischen bin ich davon überzeugt, nur so geht es. Im Sinne von Frau Penny. Bilder und Identitätenvielfalt, nur so gehen vielleicht Visionen. Influencing im Bereich Möglichkeiten sozusagen.

    • M i MA
      6 Jahren ago

      Du Liebe, wenn ich wieder da bin, realisieren wir endlich mal unser Treffen. Ich glaube, der Austausch wird so inspirierend und anregend wie auch wohltuend sein.

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