Artek meets Eurogida. Oder: Der unaufhaltsame Aufstieg der ‚Potse‘.

8. Mai 2013
oben links via artek | unten links: Straßenbild Potse / Ecke Pallasstraße | rechts: Galerie Nolan Judin
Ich kenne nicht viele Städte, die sich so rasant und grundlegend verändern wie Berlin. Noch vor rund 10 Jahren war das Bild der pulsierenden Weltstadt ein unerreichbarer Traum für die deutsche Hauptstadt. Mit dem Satz Berlin sei ‚arm, aber sexy‘ brachte der schon damals Regierende Oberbürgermeister Klaus Wowereit die Situation so image- wie idenititätsbildend auf den Punkt. Nicht die ersehnten Investoren, Touristen und Reichen kamen, sondern die mittellosen Künstler, Kreativen und andere ‚junge Wilde‘ – angelockt von unschlagbar billigen Mieten und einer Fülle von Leerstellen (Brachflächen, leerstehende Gebäude etc.), die besetzt werden wollten. Das Tacheles ist nur ein, wenngleich wohl das berühmteste Überbleibsel aus dieser ‚kreativen Besetzer-Zeit‘.


Heute ist die Stadt dem Traum der Jahrtausendwende ein deutliches Stück näher, und daran trägt die hiesige Kultur- und Kreativwirtschaft einen wesentlichen Anteil. Sie locke – so etwa IBB-Volkswirt Claus Pretzell – Touristen und ‚High Potentials‘ an (Quelle: Tagesspiegel). Allein die Zahl der Ausstellungsbesucher/innen ist von 2002 bis 2010 um sechs Millionen gestiegen – ein Plus von 73 Prozent.  Für Burkhard Kieker, Chef der landeseigenen Tourismusmarketinggesellschaft Visit Berlin, schreibt Berlin damit gerade eine ’starke Comeback-Story als Weltstadt‘ (Quelle: rbb). 


Besonders eindrücklich zeigt sich der Wandel in meiner unmittelbaren Nachbarschaft: der Potsdamer Straße – von den Berlinern auch liebevoll Potse genannt. Sie verbindet den Potsdamer Platz im Stadtteil Tiergarten mit dem Heinrich-von-Kleist-Park in Schöneberg und damit zwei soziale Brennpunkte: den Schöneberger Norden und den Tiergarten Süd. Das Straßenbild ist geprägt von 1-Euro-Läden, Gemüsehändlern, Prostitution und einem hohem Verkehrsaufkommen. Doch seitdem der Berliner Tagesspiegel sein Verlagsgebäude in der Nr. 77-87 im Jahr 2009 verlassen hat, mischt sich ein Hauch von Luxus in die Szenerie. Dabei hatte der Wegzug zunächst für große Unruhe gesorgt. Man fürchtete den weiteren sozialen Abstieg des Quartiers. Das Gegenteil ist eingetreten.
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This article is about the change of the Potsdamer Street in Berlin. I have already written about it – in English. Please find it here.

obere Reihe: Andreas Murkudis | unten links: do you read me? | unten rechts: Galerie Walden

Zuerst kamen die Galeristen. Nach und nach wagten sie sich aus der Deckung und eröffneten an der Potsdamer Straße, unmittelbar angrenzend an Billig-, Porno- und Gemüseläden die ersten Kunsträume. Heute finden sich hier internationale Größen wie Vincenz Sala oder Nolan Judin. Auch eine Filiale von  do you read me?! hat sich hier vor rund zwei Jahren niedergelassen, kurz nachdem Andreas Murkudis sein Quartier in der Münzstraße in Berlin-Mitte verließ, um im ehemaligen Tagesspiegel-Gebäude seinen 1.000 Quadratmeter großen Concept Store zu eröffnen. Die international renommierte Hutmacherin Fiona Bennett hat ihr Quartier in Berlin-Mitte ebenfalls aufgegeben und im vergangenen Jahr die leerstehenden Verlagsräume bezogen. Das finnische Label artek hat gar seine Europazentrale hierher verlegt. Wenn das kein Statement ist! Im 11. und 12. Stock befindet sich das ‚Mondial Home‚ mit Showroom und bester Aussicht über die Stadt.

Unten stehen nach wie vor die Prostituierten, bieten türkische Gemüsehändler weiterhin ihre Ware feil, schlurfen vom Leben gezeichnete Gestalten neben kosmetisch korrekten Gesichtern mit großen Brillen die Straße entlang. Ich liebe dieses kreischend widersprüchliche Nebeneinander! Es inspiriert mich und lässt mich aufatmen – Stadtluft macht frei. In wenigen Jahren  wird es wohl verschwunden und das Straßenbild von faltenfreien Gesichtern und Fassaden geprägt sein. Das ist der Lauf der Dinge. Manchmal hadere ich mit ihm und möchte ihn anhalten. Bin ich schon so konservativ geworden?

P S .
Für die artek-Fans unter euch noch ein kleiner Tipp: Im KaDeWe am Kurfürstendamm wird noch bis zum 1. Juni der 80. Geburtstag des artek-Hockers Nr. 60 von Alvar Aalto mit einer kleinen Ausstellung gefeiert.

7 Comments

  • 11 Jahren ago

    Das Tacheles ist aber doch leider gar kein überbleibsel mehr…

  • 11 Jahren ago

    Oh sag das nicht… ich mag das grad so gern. Die Luft die du da beschreibst, gibt auch mir den nötigen Sauerstoff zum Blüten-bilden. Und doch weiss ich was du meinst. Noch wohnen wir in der unschicken Ecke des Prenzlauer Bergs. Noch ohne Designerläden wie auf der anderen Seite und noch ohne Hipster und ich geniesse es so sehr beides haben zu können. Das pulsierende auf der einen Seite der Schönhauser und das altbackene herzliche auf der anderen Seite…
    Möge es noch ein wenig so bleiben

    • 11 Jahren ago

      Ja. Möge es noch verweilen ;)Und: Vielleicht wird es gar nicht so. Denn:

      Berlin, dein Gesicht hat Sommersprossen,
      und dein Mund ist viel zu groß,
      dein Silberblick ist unverdrossen,
      doch nie sagst du: »Was mach' ich bloß?«

  • 11 Jahren ago

    Keine gute Entwicklung, bald habt ihr in Berlin ebenfalls die (sehr) hohen Mieten wie in Hamburg. Verbunden mit einem starken Verdrängungsprozeß und dieser trifft in der Regel die Altmieter. In Hamburg gibt es Stadtteile dort werden nur noch Eigentumswohnungen gebaut oder in solche umgewandelt. Hoffentlich bleibt Berlin diese Entwicklung erspart.

    • 11 Jahren ago

      Das hoffe ich auch, aber es sieht so aus, als würde die Entwicklung ähnlich verlaufen.

  • 11 Jahren ago

    ich glaube, dass hat nichts mit konservativ zu tun
    in muc ging es mir ganz genauso mit dem glockenbach und dreimühlenviertel
    ich wohnte mitten drin, es war bis dato der beste stadtwohnort meines lebens
    mit dem glockenbach geht es ja schon lange bergauf, auch schon als ich noch dort war, wahrscheinlich war es sogar schon lange über den berg
    das dreimühlenviertel direkt angrenzend war noch verschlafen und man sah ihm seine geschichte an (früher – auch heute noch teilweise – waren dort schlachthöfe etc.) und ein jahr bevor ich weg bin fing es an, dass alles teuer saniert wurde, alte leute werden aus ihren wohnungen geschmissen, man kennt das ja alles
    ich bin mir nichtmal sicher ob ich mir heute dort noch die mieten leisten könnte, ich glaube es fast nicht und das macht mich traurig
    aber das ist der lauf der dinge

    • 11 Jahren ago

      traurig. das passt gut. es macht mich irgendwie traurig, dass die veränderung für viele verdrängung bedeutet. und wir wissen noch gar nicht, was das für ein verlust ist.

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