Foto (c) Ieva Jansone | aus der Serie: remember my memories. i will remember yours. |
Als was wird das Jahr 2015 wohl einmal in die Geschichtsbücher eingehen? Als Flüchtlingskrise oder Völkerwanderung? Als europäischer Neuanfang, als Integrationswunder oder Renaissance des Nationalen? Noch ist nichts entschieden. Gewiss ist nur, dass viele „Flüchtlinge bleiben und Deutschland verändern werden„. Wohin sich unser Land und Leben, unser Tun und Denken entwickeln wird, das wissen wir (noch) nicht – und nicht jede/r will etwas davon wissen.
Mit der Mär vom „Volk an der Belastungsgrenze“ stemmen sich die selbsternannten „besorgten Bürger/innen“ gegen alles Fremde – immer lauter, immer brutaler. Als gelte die geistige Beschränktheit einer xenophoben Minderheit für die Mehrheit in diesem Land. Im Vergleich dazu nimmt sich das leidige Gerede von der Leitkultur fast harmlos aus: ein hilfloser Reflex, der ins Leere führt. Was jenseits des Grundgesetzes ist denn, bitte schön, für uns alle, die wir in diesem Staat leben, gleichermaßen handlungsleitend? Am ehesten noch die „US-amerikanische Alltagskultur von McDonald’s bis Apple & Co.„Aber die ist natürlich nicht gemeint. Deutsch – das muss irgendwie tiefer sein. Irgendwie existenzieller. Irgendwie grundsätzlicher. Tatsächlich ist es vor allem eins: irgendwie.
Überraschend ist das nicht. Der Frage, was eigentlich deutsch ist bzw. sein sollte, haben wir uns als Gesellschaft bisher nicht wirklich ernsthaft angenommen. Vielleicht war´s schlicht nicht nötig, vielleicht angesichts der vielen Krisen (erst Banken-, dann Finanz- und schließlich Euro-Krise) einfach nicht möglich. Wie dem auch sei, im Buch der Narrative finden sich entsprechend wenig überzeugende Antworten.
Jetzt wäre ein guter Moment, die Frage neu zu stellen. Die Polarisierung, die wir aktuell erleben und die Peter Richter in der SZ vom Wochenende auf die prägnante Formel „Blumen oder Brandflaschen“ brachte (zu ergänzen wäre sie noch um eine dritte Dimension: die der verbalen Nebelkerzen) ist zutiefst beunruhigend. Zugleich aber öffnet sich zwischen diesen Polen der Raum, in dem sich Deutschland neu erfinden kann – als ein weltoffenes, konfliktfähiges, innovatives Land, „in dem sich verschiedene Kulturen in einem Prozess von Anziehung und Abstoßung aufladen und fruchtbar machen.“ An Stoff für solche Geschichten mangelt es nicht. Denn anders als wir reden, existiert dieses Deutschland schon an vielen Orten.
Liebe Sabine,
ja, es sind sicherlich sehr gegensätzliche Geschichten und sich reibende, bisweilen störende Bilder. Eher Neue Musik als ein harmonisches Gesamtkunstwerk. Eine widerspruchsfreie "Einheitsgeschichte" kann es in einer demokratischen Gesellschaft nicht geben. Das wäre ihr Ende.
Peter Richter erwägt in dem oben zitierten SZ-Artikel (den ich sehr lesenswert finde) das Booklyn-Modell "Ruppig nebeneinander leben". Man muss ja nicht alle mögen. Man kann sich ja doof finden und die Gegenwart des anderen trotzdem aushalten.
Herzlich,
I.
Liebe Indre, ein interessant geschriebener, guter Gedankenanstoß… ja, jetzt wäre Gelegenheit zur neuen Definition, Annäherung, an das, was deutsch sein kann/ist. Das ist wahrscheinlich eben auch gegensätzliches. Ich erinnere mich, wie ich mit meiner Nichte, die mit 6 Jahren aus Rumänien kam, neulich sprach. sie fragte mich, wie wir in NRW mit Flüchtlingen umgehen, wie wir sie spüren. Ja, ich nehme wahr, dass sich hier ganz viele Leute einbringen, sich nützlich machen, gemeinsam überlegen, was gebraucht wird, was getan werden kann. Sie staunte. "Hier im Dorf in Sachsen setzen sich eher viele Leute zusammen, um zu verhindern, dass Flüchtlinge kommen". Das möchte ich keinesfalls verallgemeinern, aber ich nahm wahr, auch aus anderen Gesprächen, dass eine große Angst vorhanden ist, Veränderungen die Tür freundlich zu öffnen.
Liebe Grüße nach Berlin, Sabine