»Viele verwechseln Privilegien mit Freiheit« | Im Gespräch mit PINKSTINKS

4. Dezember 2017

»Der Schreck der Werbewirtschaft« betitelte sie das Handelsblatt Anfang des Jahres, die Süddeutsche spricht vom »wandelnden Albtraum der Werbewirtschaft«. Gemeint ist der Verein Pinkstinks bzw. seine Gründerin, die Genderforscherin Stevie Schmiedel. Seit 2012 kämpft sie gegen Geschlechterklischees in der Produktgestaltung und in der Werbung.

Den Ausschlag dafür gab eine Bikini-Werbung der Modekette C&A, die Schmiedel schließlich erfolgreich zum Rückzug zwang. Seither hat die Organisation einiges erreicht.

Die Bahn AG korrigierte 2014 ihre Werbung zum Muttertag. Aus »Mama ist die Schönste, Papa ist der Beste« wurden innert einer Stunde »die Besten«. Lidl entfernte einen halbnackten Frauenkörper ohne Kopf mitsamt des Spruchs »Fass mich an« von seiner Bierfass-Werbung. Und Tchibo verkündete 2015, künftig auf »nur für Mädchen«- bzw. »nur für Jungen«-Produkte zu verzichten. Doch das gefällt nicht allen. Immer wieder wird PINKSTINKS angegriffen. 

»Viele haben immer noch nicht verstanden, dass es uns um Antidiskriminierungsarbeit geht und nicht darum, ihnen ‚die Brüste‘ wegzunehmen.«

Nils Pickert | Chefredakteur

Wie es im Jahr 2017 um Gleichberechtigung und Geschlechtergerechtigkeit steht, was die größten Baustellen sind und man als Eltern einen guten Umgang mit der Topmodel-Affinität der Kinder findet – um das und mehr geht es im heutigen Interviews, mit dem ich allen einen gelungenen Start in die neue Woche wünsche. Vielen Dank für das gute Gespräch, lieber Nils.

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Wie steht es im Jahr 2017 nach Christi um Geschlechtergerechtigkeit und Vielfalt in der medialen Öffentlichkeit?

Unterschiedlich. Auf der einen Seite wächst der öffentliche Druck und das Bewusstsein dafür, dass Frauen und Mädchen unterrepräsentiert sind und Medien sich viel diverser aufstellen müssten. In Ansätzen geschieht das auch. Auf der anderen Seite zeigen Untersuchungen wie die der malisa Stiftung und andere wie schwerwiegend das Problem hier und heute ist, und wieviel Zeit seit Jahren und Jahrzehnten mit der Frage verschwendet wird, ob das nicht vielleicht problematisch sein könnte.

Als die Person, die sich mit Pinkstinks 2015 für den Versuch verantwortlich zeichnete, Germany’s Next Topmodel über den Jugendschutz auf den 22 Uhr Sendeplatz zu schieben und nach langem hin und her mit der Begründung »Ja, das mag ja alles ganz furchtbar sein, spiegelt aber nur die Realität wieder« schließlich abgeschmettert wurde, kann ich sagen: Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.

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Seit 2012 wird PINKSTINKS gegen die Manifestation überkommener Rollenbilder und -klischees in Werbung und Medien laut. Hat sich/habt ihr in den vergangenen fünf Jahren etwas zum Positiven bewegt? Falls ja, was?

Es hat sich einiges getan. Nicht zuletzt auch durch unsere Bemühungen. Wir haben beispielsweise gerade ein zweijähriges Monitoringprogramm am Start, mit dem wir uns im Auftrag des Familienministeriums genau anschauen, wo in Deutschland wie sexistisch geworben wird. Dabei stellen wir fest, dass es nicht mehr wie zu Beginn so sehr die großen Firmen sind, sondern die mittelständischen Betriebe, die ihre Werbung mit einer sexualisierten Frau als Blickfang ohne Produktbezug selbst zusammenbasteln.

Aber wenn man sich die Entwicklung der letzten Jahre anschaut, insbesondere auch über den deutschen Tellerrand hinaus, sind die Ergebnisse durchaus ermutigend. Mit dem »Glass Lion« verleiht das Festival in Cannes inzwischen einen Positivpreis für diverse Werbung. In London hat sich dieses Jahr erstmalig die »Unstereotype Alliance« zusammengefunden, in der sehr große Werbe- und Wirtschaftsplayer darüber beraten, wie sie Sexismus vermeiden können, und der britische Werberat hat vor, selbst stereotype Werbung zu verbieten – das wäre über ein Gesetz so niemals möglich. Jetzt müssten wir in Deutschland nur auch mal aus den Latschen kommen.

Leider haben hier viele immer noch nicht verstanden, dass es uns um Antidiskriminierungsarbeit geht und nicht darum, ihnen »die Brüste wegzunehmen«. Aber das wird schon noch.

Wo seht ihr die größten »Baustellen« auf dem Weg in einer geschlechtergerechte Gesellschaft? Und was sind die größten Hürden?

Die größte Hürde besteht aus meiner Sicht aus einer reflexhaften Verteidigung des Status Quo – aus Angst vor Veränderungen. Der Status Quo privilegiert und darauf verzichtet man nur ungern – wie so oft wird Privileg mit Freiheit verwechselt.

Als heterosexueller, weißer Mittelschichtsmann ohne Behinderung werden mir beispielsweise in der Werbung ständig Frauen als sexualisiertes Objekt angeboten, damit ich mich für dieses oder jenes Produkt interessiere. Ich habe das Privileg, als jemand mit Entscheidungsgewalt und Kaufkraft wahrgenommen zu werden. Von der Freiheit, nicht dieser Mann sein zu müssen, nicht qua Geschlecht als manipulierbar, sexuell eher einfach gestrickt und triebgesteuert zu gelten, ist da nicht die Rede. Von daher steht die Emanzipation des Mannes noch aus.

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Meine Tochter ist neun Jahre alt. Sie findet Topmodel, Barbie & Co schön und ihre Beine manchmal zu dick. Als Eltern versuchen wir möglichst unaufgeregt dagegen zu halten, fühlen wir uns aber manchmal ziemlich hilflos gegenüber dem medial vermittelnden Schönheitsideal. Habt ihr Tipps für Eltern »topmodel-affiner« Töchter und Söhne, wie sie ihre Kinder und sich selbst stärken können?

Verbote machen wenig Sinn. Die Generation Smartphone findet ihren Weg jenseits aller Verbote und elterlicher Überwachungen, Medieninhalte zu konsumieren. Auf ganz persönlicher Ebene haben Stevie und ich festgestellt, dass es sinnvoll ist, sich diesen Dingen gemeinsam mit den Kindern zu stellen und dabei nicht immer nur Contra zu geben. Sondern auch Pro. Pro: Mir gefällt, dass die Model viel reisen dürfen und einige tolle Kleider dabei sind. Contra: Ganz viele andere Dinge: Bodyshaming, stereotypes Casting, fiese Schnitte, um die Leute schlecht aussehen zu lassen. Oder ganz elterlich: Die reden nie über Geld – was soll das?!

Nicht nur in Bezug auf GNTM ist eines der größten Probleme, die Medien verursachen, dass sie ganze Lerninhalte, Erwerbsbiografien und Lebensphasen auf einen Faktor eindampfen: bekannt sein. Egal wie, egal warum, egal wofür. Alles ist darauf getrimmt, dass es danach aussieht, mit möglichst wenig Arbeit viel Geld zu verdienen und bekannt zu werden. YouTube Star, Instagram Influencer*in, Castingkandidat*in. Da würde ich ansetzen.

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Unter dem Schlagwort #meetoo haben Frauen das Ausmaß sexueller Übergriffe und Gewalt weltweit sichtbar gemacht. Wird das etwas verändern? Wie schätzt ihr das Potenzial dieser und ähnlicher Aktionen ein? Was fördert das gesellschaftliche Umdenken und -lenken eurer Meinung nach besser?

Die Kampagne ist wichtig und notwendig, zeigt den grauenhaften Ernst der Lage und schiebt Dinge an. Es soll sich nur nicht zu einem Zwangsouting auswachsen, bei dem auf Frauen Druck ausgeübt wird, sich als Opfer sexualisierter Gewalt zu positionieren, weil sie in einer Debatte ihre Stimme erheben oder sich als Feministin zu erkennen geben.

Unserer Einschätzung nach verändert sich etwas. Nicht die ganze Welt und nicht alles auf einmal, aber die Tatsache, wie lange dieses Thema mittlerweile medial präsent ist, ist bemerkenswert. Es kommen nicht nur zahlreiche Übergriffe ans Licht, sondern wir scheinen tatsächlich endlich darüber zu sprechen und zu verhandeln, wie wir miteinander umgehen und was sich ändern muss. Erfreulich ist dabei , dass auch Männer die Debatte mit sinnvollen, reflektierten Beiträgen bereichern.

Eure Prognose: Wo stehen wir als Gesellschaft im Jahr 2025 in Sachen Geschlechtergerechtigkeit?

Ganz zynisch könnte man die Antwort auf diese Frage an die »Erst das Fressen, dann die Moral« Faustregel anlehnen. Geschlechtergerechtigkeit wird als Luxusproblem wahrgenommen. Wir leisten uns gerade eine (sehr wichtige) Debatte, die durch die Sichtbarmachung der Übergriffe eines US-amerikanischen Filmproduzenten in Gang gekommen ist. Das klappt nur aufgrund funktionierender sozialer Netzwerke und Menschen, die Kapazitäten haben, sich damit zu beschäftigen. Größere Krisen werden die Bemühungen um Geschlechtergerechtigkeit immer zurückwerfen. Während der Bankenkrise kam der gesellschaftliche Diskus darüber, wie wir miteinander umgehen wollen und sollten beispielsweise fast vollständig zum Erliegen. Wir hoffen natürlich, dass sich die nächsten Jahre so ausnehmen, dass wir an diesen Themen dranbleiben können – politisch wie auch juristisch und zivilgesellschaftlich. Und ja, der Backlash ist gewaltig. Aber die feministische Vernetzung und Wirkmächtigkeit hin zu mehr Geschlechtergerechtigkeit auch.

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Eure Vision: Wie sieht eine Welt aus, in der wir vielfältige Mädchen- und Jungen-, Frauen- und Männerbilder leben?

In dieser Welt ist Identität endlich etwas, mit dem man spielen, experimentieren und das man erfahren und leben kann, ohne dass andere eine*n dafür ausgrenzen und anfeinden. In dieser Welt manipuliert mich eine kapitalistische Industrie nicht dahingehend, dass ich mich defizitär und übersehen fühle, damit ich ihre Produkte kaufe. Wer tanzen will, tanzt. Wer forschen will, forscht. Leute machen Kleider und tragen sie auch. Einvernehmlichkeit, Respekt und friedliches Miteinander haben es in unsere Bildungsarbeit geschafft und nehmen endlich den Raum ein, den sie brauchen. Genug Utopie fürs Erste?


Bildnachweis: alle Fotos und Video © aron&nora

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