Gut anderthalb Jahre ist es her, dass ich mit Kirsten Becken über ihr Buchprojekt sprach. Seither ist viel passiert. Das Buch »Seeing Her Ghosts« ist nach einer erfolgreichen Crowdfunding-Kampagne im Sommer 2017 erschienen. Namhaften Zeitschriften haben es positiv rezensiert. Auch in der Ursachenforschung sind Mutter und Tochter vorangekommen.
Im heutigen Interview erzählt die Klever Fotografin unter anderem, welche neuen Erkenntnisse sie über die Erkrankung ihrer Mutter gewonnen haben, wie es möglich war und ist, dass sexueller Missbrauch jahrzehntelang unerkannt bleibt, was dessen Aufdeckung mit ihrer Mutter und der Familie macht.
1.000 Dank, liebe Kirsten, für das so inspirierende wie aufrüttelnde Gespräch, mit dem ich allen einen guten Start in die neue Woche wünsche.
Welche neuen Erkenntnisse über die Erkrankung deiner Mutter habt ihr gewonnen?
Unfassbar, die Zeit rast und dabei fühlt es sich für mich an wie eine kurzweilige Reise in die Vergangenheit. Ganz anders ist es allerdings für meine Mutter, die besonders jetzt sehr hart an sich arbeitet und mit einer Wucht an Gefühlen und jahrelang unterdrückten Bedürfnissen umgehen will. Sie ist fest entschlossen und dankbar, dass ich (mit ihren Worten) Dampf gemacht habe. Sie sieht endlich eine Perspektive, ihre ursprünglichen Ziele und Wünsche zu leben. Sie hat so viel Kraft und ich bin sehr stolz auf sie. Da fängt ein neues Leben an.
Wir haben durch die Arbeit an »Seeing Her Ghosts« in einem intensiven, therapeutischen Prozess ein tief vergrabenes Familiengeheimnis aufgedeckt. Meine Mutter ist in ihrer Kindheit von ihrem Vater missbraucht worden und diese Dynamik dominiert das gesamte familiäre System mütterlicherseits. Oder besser gesagt, das, was davon übrig geblieben ist. Heute sehe ich mit ganz anderen Augen und erkenne die Unwahrheiten, die tragischen Zusammenhänge, die unausgesprochenen Gefühle, die mir gegenüber Jahre zuvor verschleiert und vernebelt wurden.
Wie seid ihr auf die Missbrauchsgeschichte gestoßen? Und wie war die Konfrontation mit dieser furchtbaren Familiengeschichte für dich?
Es ist eine tragische Geschichte und man geht nie davon aus, dass soetwas in der eigenen Familie vorkommen könnte. Trotzdem habe ich den Mut gefasst zu recherchieren und habe viel Zeit damit verbracht, Fotografien zu analysieren, Zusammenhänge zu rekonstruieren, Gespräche mit Menschen aus ihrem entfernten Umfeld geführt. Erst dann gelang es mir einen vagen Ansatz zu entwickeln, eine Perspektive zuzulassen und hinzusehen, bis mir plötzlich ein Gefühl aufstieß. Das Gefühl auf der richtigen Fährte zu sein.
Für mich ist es wie eine Erlösung, endlich die Ursache gefunden zu haben. Es gibt immer einen Grund für seelische Leiden. Mir sind nur Teile des Puzzles zugänglich geworden, weil ich bislang nur mit meinen Eltern und meiner Großmutter, die vor kurzem verstorben ist, darüber sprechen konnte. Ich kenne also nicht die vollumfängliche Geschichte, aber mir ist klar, dass eine dysfunktionale Familiendynamik eine Kettenreaktion verschiedenster Erlebnisse provoziert, die zusätzlich zum eigentlichen Missbrauch eine hohe Belastung darstellen und das ganze Drama noch um ein Vielfaches schlimmer machen kann.
»Missbrauch ist ein Verbrechen und wird aus privaten Gründen gedeckt. Dieser Vorgang kostet so viel Liebe, Schmerz und Energie.«
Wie konnte der sexuelle Missbrauch über so viele Jahre unerkannt bleiben? Und wie wird die Aufdeckung in eurem Familienkreis aufgenommen?
Die Erinnerung, die meine Mutter an den Missbrauch hat, raubt ihr den Atem. Es ist ein traumatisierendes Ereignis und wird dissoziiert. Das bedeutet das Gehirn verkapselt das Trauma so, dass es nur sehr schwer zugänglich wird. Ihre Sorge, mir könnte dasselbe passieren, während der Zeit, in der ich bei meinen Großeltern lebte, gab mir zu denken. Durch diese Sorge konnte sie mich schützen, und das ist schon ungewöhnlich genug, wurde aber von ihrer Mutter für ihre Mutmaßungen als »krank« bezeichnet. Meine Großmutter hat ihren Missbrauch toleriert, indem sie jahrelang an der Seite ihres Mannes lebte und eine Familie zusammenhalten wollte. Die Rolle der Frau war in den Sechzigern ja völlig passiv. Es schaudert mich, wenn ich feststelle wie machtlos und leer sie sich gefühlt hat und welche Rolle dabei ihre eigene Erziehung und die damalige Gesellschaft gespielt hat.
Im Familienkreis gibt es keine intakte Kommunikation. Selbst als ich versucht habe Brücken zu bauen, gelang mir keinerlei Annäherung. Meine Position in der Familie ist nicht einfach, denn ich hole etwas hervor, was vor meiner Zeit passiert ist und wecke damit schlafende Hunde. Ich wurde nicht mit offenen Armen begrüßt. Es ist aber auch verständlich, denn die meisten Menschen machen es sich irgendwann bequem in einem Lebensentwurf und bislang konnte ich auch nicht herausfinden, wie weit die Tragödie wurzelt. Missbrauch ist ein Verbrechen und wird aus privaten Gründen gedeckt. Dieser Vorgang kostet so viel Liebe, Schmerz und Energie. Mir ist klar, dass eine lange Kette tragischer Erlebnisse und Leiden, auch aus der Kriegszeit, der Zeit während der Vertreibung und Flucht meines Großvaters aus Pommern, dem Ganzen vorangeht und ein Täter auch Opfer ist. Trotzdem weiß ich, dass meiner Mutter ein riesiges Unrecht widerfahren ist, indem ihre ganze Familie »gaslighting« betrieben hat und ihr eine Krankheit angedichtet hat, die im Laufe der Jahre zusammen mit einer heftigen Medikation ihre Realität wurde. Ich habe eine unglaubliche Wut.
Wie hat die bisherige Auseinandersetzung mit der Erkrankung deiner Mutter dein Bild von Familie und von Schizophrenie verändert?
Ich habe eine unglaubliche Systemwut. Man wird allein gelassen mit großen Problemen und ohne Vorwissen mit Psychopharmaka in Kontakt gebracht. Es wird viel zu wenig Aufklärung betrieben, weil der Kreislauf so geschlossen ist. Zuerst liegt ein tiefer Konflikt vor, ein Problem, eine Erschütterung des Selbst – das ist großer Stress für die Seele. Nachdem diese Verletzung passiert ist, wäre angebracht den Betroffenen mit Samthandschuhen an die Hand zu nehmen und offenen Ohren zuzuhören. Stattdessen wird eine Neuroleptika-Keule geschwungen, die zusätzlich zur ursprünglichen Wunde noch mehr Leid und Verunsicherung verursacht. Es sind ja keine Medikamente, die helfen, sie betäuben nur, damit man mit ihnen Abdriften kann. Weg vom eigentlichen Schmerz. Diesen Schmerz muss man aber (auch als Angehörige*r) zulassen und langsam abarbeiten, sonst kommt man nicht zum Kern.
Die Bezeichnung Schizophrenie ist so althergebracht. Die mitgelieferten Konzepte der unterschiedlichen Ausprägungen und Kennziffern sind es auch. Für mich gilt jetzt mehr denn je die Erkenntnis, dass man durchaus verrückt gemacht werden kann. Wenn einem das nahe Umfeld keinen Schutz bietet, sondern einem mit einer Schallmauer aus Unwahrheiten begegnet, verliert man über die Jahre den Glauben an seine eigene Realität, an seine Gefühlswelten. So war es bei meiner Mutter.
Familie ist ein komplexer Zusammenschluss und verdichtet Schicksale mit einer Aneinanderreihung diverser Muster und Verhaltensweisen, die sich über Generationen halten. Trotzdem liebe ich es, Hochzeiten von befreundeten Paaren zu fotografieren und erinnere mich an jede positiv zurück. Vielleicht, weil ich immer schon gespürt habe wie wichtig Liebe ist und wie schön es ist, wenn eine große Familie zusammenkommt und eine Feier Hand in Hand auf die Beine stellt. Im Kleinen war es so auch bei meiner Hochzeit, nur, dass es im Wesentlichen mein Vater und meine Mutter waren, die halfen. Oh, und ich habe im Brautkleid meiner Mutter geheiratet und wie sie damals auch einen Blumenkranz getragen. Ich denke, dass Familie auch wunderbar sein kann, wenn man hinsieht und handelt.
»Familie kann auch wunderbar sein kann, wenn man hinsieht und handelt.«
Seit bewiesen ist, dass deine Mutter sexuell missbraucht wurde, geht es ihr zunehmend besser. Wie ist es zu erklären, dass die Gewissheit über diese grausamen Erfahrungen heilsame Wirkung hat, denn genauso könnte die Konfrontation mit dieser Vergangenheit unerträglich schmerzvoll sein?
Wir haben sogar vor kurzem eine Kinderzeichnung von ihr gefunden, die ihren Missbrauch darstellt. Diese Zeichnung hat sie ihrer Therapeutin gezeigt und spricht jetzt langsam immer mehr über all das. Sie hat selbst neuen Mut gefasst, blüht auf und hat wieder angefangen regelmäßig künstlerisch zu arbeiten. Es ist logisch, dass eine riesige Last abfällt, wenn nach vielen Jahren eine Erkenntnis eintritt, die immer schon vermutet wurde. Das kann man sich vorstellen wie einen Befreiungsschlag. Natürlich ist es eine erschütternde Wahrheit, aber nur Wahrheiten können heilen. Meine Mutter hat mir vor ein paar Wochen gesagt, dass sie gerne früher mit der Spurensuche angefangen hätte. Da habe ich gemerkt, wieviel auch von mir abhing und wie sehr die Kinder den Betroffenen helfen können.
In eurem Buch sind zahlreiche Texte enthalten, die Schizophrenie bzw. Psychosen neu und anders verstehen. Zum Beispiel?
»Seeing Her Ghosts« versammelt aktuelle Erkenntnisse aus der Hirnforschung zum Thema Halluzinationen von Prof. Paul Fletcher, Cambridge (interessanter TED Talk), Auszüge aus »Verkörperter Schrecken« über transgenerationale Traumata von Dr. Bessel van der Kolk. Außerdem finden sich in unserem Buch Therapiemöglichkeiten für Patient*innen mit Psychosen von Prof. Danielle Knafo, die an der Long Island University in New York doziert sowie von Bettina Alberti, die in ihrem Buch »Seelische Trümmer: Geboren in den 50er- und 60er-Jahren« zeigt, wie historisch-gesellschaftliche Ereignisse und Entwicklungen in unserer Psyche ihren Niederschlag finden, zum Beispiel bei den Nachkriegskindern .
Mir war es wichtig, den aktuellsten Stand der Erkenntnisse zu bündeln. Im Mai stelle ich das Buch in der Charité Berlin auf dem DDPP Kongress vor. Prof. Dr. med Dorothea von Haebler hat mich dazu eingeladen. Dort gibt es auch einen Workshop zum Thema Psychodynamische Psychotherapie für Menschen mit Psychosen.
Und abschließend möchte ich noch diesen Link empfehlen: eine Dokumentation zum »Stimmen hören« auf arte.
Ich kann nicht in Worte fassen, wie sehr mich dieses Interviwe berührt!Die Entstehung des Projektes/Buches habe ich sehr verfolgt und die bewundert, mit welch zarter Intensität sich Kirsten der Geschichte ihrer Mutter genähert hat.
Diese Entwicklung und Entdeckung berührt mich, macht mich traurig und gleichzeitig ist es so eine große Chance, sich selbst nochmal völlig neu zu finden, abseits von Diagnosen, die mit dem Hintergrund vielleicht gar nicht mehr wahr sind.
Ich wünsche euch, der Familie Becken, alles Gute und viel Kraft für den NEubeginn! ♥
Was für ein kraftvolles Interview!