M i MAs Kladden: Von wegen Dönerbude oder Männercafé. Engür Sastimdur und das P103 Mischkonzern

26. März 2014
P103 Mischkonzern, Berlin, Engür Sastimdur, Café, Restaurant, Galerie, Potsdamer Straße, Jürgen Gustav Haase, Ans Netz Taxi, Schönebreg, Bülowstraße, Tiergarten
Bild (c) P103 Mischkonzern
Seit ich das Lokal erstmals vor rund fünf Monaten vom gegenüberliegenden Radweg aus sah – es war Abend und durch die großen Ladenfenster konnte ich hineinblicken in die eigenartig schöne Szenerie – hat es mich in seinen Bann gezogen. Ich musste einfach hinein. Und schon nach meinem ersten Besuch war klar: Das P103 Mischkonzern ist ‚mein‘ Café. Seither bin ich so oft wie möglich dort, zum Frühstücken, auf einen Wochenendkaffee oder Abends auf ein Glas Wein oder zum Essen. Immer wieder habe ich mich gefragt, was es wohl ist, das dieses Café-Restaurant zu einem so besonderen Ort macht. Die Antwort liegt vor allem auch in der Person Engür Sastimdur begründet, den ich heute zu portraitieren versuche.
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P103 Mischkonzern, Berlin, Engür Sastimdur, Café, Restaurant, Galerie, Potsdamer Straße, Jürgen Gustav Haase, Ans Netz Taxi, Schönebreg, Bülowstraße, Tiergarten


‚Das Potenzial seiner Migranten hat Deutschland bis heute nicht erkannt‘, sagt Engür Sastimdur. Es ist Sonntagmorgen, kurz nach 10 Uhr. Wir stehen an der Bar des Galeriecafés P103 Mischkonzern in der Potsdamer Straße, an der Bezirksgrenze zwischen Schöneberg und Tiergarten. Engür bereitet einen Cappuccino zu, schiebt seine Brille hoch ins halb lange dunkelgraue Haar. ‚Nach Außen sieht man vielleicht nur Dönerbuden oder Gemüsestände, aber dahinter verbirgt sich eine ganze Ökonomie.‘ Er rückt die Brille zurück auf die Nase. ‚Wir tragen wesentlich zur wirtschaftlichen Entwicklung dieses Landes bei, zahlen Steuern und Sozialbeiträge und schaffen Arbeitsplätze.‘ Und nicht nur das, möchte man an dieser Stelle hinzufügen: Auch kulturell bereichern sie dieses Land. ‚Trotzdem gehören wir nicht dazu. Erst waren wir Gastarbeiter, dann Ausländer, später Migranten und heute sind wir – als Mitbürger mit Migrationshintergrund – noch immer keine gleichwertigen Bürger dieses Landes.‘
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P103 Mischkonzern, Berlin, Engür Sastimdur, Café, Restaurant, Galerie, Potsdamer Straße, Jürgen Gustav Haase, Ans Netz Taxi, Schönebreg, Bülowstraße, Tiergarten
Engür weiß wovon er spricht. 1967 kam er, siebenjährig, mit seinen Eltern aus der Türkei nach Deutschland. ‚Anfangs waren wir willkommen, aber zu Beginn der 1970er Jahre kippte die Stimmung: aus den Gastarbeiterfamilien wurden ‚Kanaken‘.‘ Seine Kindheit und Jugend in Westberlin steht exemplarisch für die Erfahrungen vieler türkisch-, arabisch- oder persisch-stämmiger Männer. ‚Beschimpfungen und Ausgrenzung gehörten zu meinem Alltag. Wollten wir in die Disko, war zufällig immer Themenabend, und wir durften nicht rein.‘ Das galt für die bürgerlichen Charlottenburger Diskotheken genauso wie für die Szenelokale der ach so libertären Kreuzberger Subkultur. Die Schulzeit war zäh; als ‚Gastarbeiterkind‘ musste man sich nicht nur durch den – für alle Kinder und Heranwachsenden gleichermaßen quälenden – Schulstoff arbeiten, sondern zusätzlich gegen Mauern aus Vorurteilen ankämpfen. Engür beendete diesen ‚Kampf‘ mit der mittleren Reife und begann eine Ausbildung zum Elektroniker. Sein Bildungshunger aber war damit längst nicht gestillt.
Nachdem er die nötigen Berufsjahre zusammen hatte, studierte er zunächst Elektrotechnik, anschließend BWL. Die Liebe fürs Schöne kam dabei jedoch zu kurz. Also hängte er noch ein halbes Architekturstudium dran. Finanziert hat er sich diesen ‚Luxus‘ mit dem Taxifahren. ‚Das war bis weit in die 1990er Jahre ein lukrativer Job‘, erzählt Engür, der 2007 zusammen mit seinen zwei persischen Freunden, dem Architekten Mohsen und dem Bauingenieur Mehran, die Taxizentrale ANS NETZ TAXI gründete. Die Räume in der Bülowstraße Nummer 11 in Berlin-Schöneberg entwickelten sich schnell zu einem Magnet für kunst- und kulturliebende Menschen, denn neben Taxifahrten organisierten die drei Freunde Ausstellungen und kulturelle Events.
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P103 Mischkonzern, Berlin, Engür Sastimdur, Café, Restaurant, Galerie, Potsdamer Straße, Jürgen Gustav Haase, Ans Netz Taxi, Schönebreg, Bülowstraße, Tiergarten
Deckenmalereien, Stuck und Kunst im P103 | Bild rechts (c) P103
Der Wandel von der Taxizentrale zur taxivermittelnden Kulturladen begann 2008  mit einer Ausstellung des gelernten Stahlschiffbauers und Künstlers Jürgen Gustav Haase und verstärkte Engürs Wunsch nach einem eigenen Galeriecafé. Bis er Wirklichkeit wurde, zogen jedoch noch fünf Jahre ans Land. 2013 Jahr entdeckte er dann die leerstehenden Räumlichkeiten in der Potsdamer Straße 103. Das 250 Quadratmeter große Ladenlokal beherbergte 100 Jahre lang die traditionsreiche Buchhandlung Struppe und Winckler, bis sie 2004 an den Gendarmenmarkt zog. Zuletzt wurden in den altehrwürdigen Räumen Haare zurechtgeschnitten.
Engür mietete das Ladengeschäft zusammen mit seinen zwei Freunden Mohsen und Mehran. Mit der Unterstützung seines Vaters ließen sie die übermalten Decken- und Wandmalereien freilegen, versetzten den Stuck in seinen Urzustand zurück und möblierten die geplünderten (die unter Denkmalschutz stehende Inneneinrichtung der alten Buchhandlung ist spurlos verschwunden) Räumlichkeiten neu. Keine hippe Inneneinrichtung aus Trend- und Designermöbeln, sondern liebevoll zusammengetragene Einzelstücke mit viel Geschichte laden zum Verweilen und Plaudern ein. ‚Wir haben ganz bewusst einen Gegenentwurf zu schnelllebigen Berliner Szene geschaffen‘, erklärt Engür ihre Philosophie. ‚Mit dem P103 Mischkonzern wollen wir an die Berliner Kaffeehauskultur der 1920er Jahre anknüpfen und sie in die Jetztzeit transferieren.‘ Gepflegte Langsamkeit statt ‚hippe Hektik‘ – so lässt sich die Lokalkultur vielleicht auf den Punkt bringen. Das kommt nicht nur bei den Gästen an, wie das elektronische Gästebuch eindrücklich dokumentiert:


Ich habe eine Welt entdeckt, die ich mir nicht hätte ausmalen können – 
das ist keine Gaststätte, kein Café, kein Restaurant, obwohl all das stimmt. 
Es ist ein Ort für Freunde, für Liebe,Vertrauen und Kunst, ... ein ‚living room‘. 
Und jetzt da ich … ein wenig über Eure Geschichte erfahren habe, 
ahne ich, wie so etwas Besonderes hat entstehen können.‘  
Theo am 21. Februar 2014. 

Auch die Nachfrage nach Ausstellungsmöglichkeiten ist in der kurzen Zeit seit Bestehens so gewachsen, dass Engür eigens für diesen Zweck eine Kuratorin angeheuert hat. Sie unterstützt ihn bei der Auswahl und Umsetzung des Ausstellungsprogramms.

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P103 Mischkonzern, Berlin, Engür Sastimdur, Café, Restaurant, Galerie, Potsdamer Straße, Jürgen Gustav Haase, Ans Netz Taxi, Schönebreg, Bülowstraße, Tiergarten, Peter Fauland
Bilder (c) Peter Fauland
Es scheint durchaus nicht ganz abwegig, dass sich Engürs Lebenstraum zum Nachfolger des namhaften Berliner Künstlerlokals ‚Romanisches Café‚ entwickelt, wie so manch einer prognostiziert. Im P103 Mischkonzern – ‚Die Räume beherbergen das Café-Restaurant P103 und die Galerie Mischkonzern‘, erklärt Engür den Doppelnamen – trifft sich die (West)Berliner Boheme: bekannte und weniger bekannte Künstler/innen, Schauspieler/innen, Schriftsteller/innen, Filmemacher/innen und anderen Kunst- und Kulturschaffenden. Der gebürtige Schweizer, Schauspieler und Fotokünstler Stefan Kurt gehört ebenso zu den Stammgästen wie der aus Chicago stammende Zeichner Edwin Dickman oder die Galerist/innen aus der Nachbarschaft.

Auf die Frage nach seinem Verhältnis zur ‚Potse‚, wie die Berliner/innen die Potsdamer Straße liebevoll nennen, antwortet Engür: ‚Die Potsdamer Straße ist meine liebste Straße. Ich bin in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft groß geworden. Keine andere Straße ist so vielfältig wie sie. Hier trifft man Prostituierte und Stricher ebenso wie internationale Galeristen und Millionäre.‘ Und wenngleich er das so spannungsreiche wie spannende Nebeneinander der verschiedenen Lebenswelten durch die Gentrifizierung bedroht sieht, ist er doch optimistisch, dass die Straße ihr besonderes Flair nicht ganz verlieren wird. ‚Die Potsdamer Straße ist eine von Berlins meist befahrenen Durchfahrtsstraßen; sie wird immer laut und schmutzig und ruhelos bleiben.‘ 

In wenigen Tagen wird – vielleicht ist er es auch schon – Engür Vater. Mit dem P103 Mischkonzern hat er ein ganz wundervolles Umfeld zum Aufwachsen und Großwerden für seine kleine Tochter geschaffen.
P103 Mischkonzern
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Potsdamer Straße 103
10785 Berlin
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Telefon 030 5470 6000
E-Mail post@p103.de
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Öffnungszeiten
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täglich von 9 bis 24 Uhr
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P103 Mischkonzern, Berlin, Engür Sastimdur, Café, Restaurant, Galerie, Potsdamer Straße, Jürgen Gustav Haase, Ans Netz Taxi, Schönebreg, Bülowstraße, Tiergarten, Gralsritter e Amici II  Tönende Skulpturen – Arien und Chorgesang in h-müll von Stefanie Gritz-Sowa
Gralsritter e Amici II. Tönende Skulpturen – Arien und Chorgesang in h-müll von Stefanie Gritz-Sowa

12 Comments

  • 10 Jahren ago

    Das ist es, ja?! Sieht klasse aus und klingt richtig gut.

  • 10 Jahren ago

    Ein tolles Portrait, ein sympathischer Mann. Und doppelt so, wenn er Frau Sowas Skulpturen ausstellt. Ebenfalls eine klasse Person!

  • 10 Jahren ago

    Ein wunderbarer Beitrag, liebe Indre. Ich kann meinen nächsten Berlinbesuch, hoffentlich wieder im Juni für einen Monat, kaum abwarten, denn da möchte ich unbedingt hin. LG Rebekka

  • 10 Jahren ago

    liebe indre, vielen dank für dieses liebevolle und bereichernde portrait. selten bin ich in dieser ecke, dein bericht gibt mir einen grund, den radius mal wieder zu erweitern. schöne grüße, wiebke

  • 10 Jahren ago

    Osmans Töchter im Prenzelberg kennst du sicher auch? Auch so ein wunderbarer Ort mit unglaublich leckerem türkischen Essen!!! Und einer grossartigen Atmosphäre!

    Lg Ka

    • 10 Jahren ago

      Liebe Ka, nein, kenne ich nicht. Aber das wird sich ändern 😉 Danke.

  • 10 Jahren ago

    Das ist Berlin. Mit all der Kraft, die diese Stadt besitzt. Schön, danke für´s Teilen. Beim nächsten Besuch werde ich dort einkehren, das steht fest!
    Liebe Grüße
    Martina.

    PS: Was die Integration angeht so glaub ich auch wie @dieraumfee daran, dass alle Beteiligten dafür etwas tun müssen. Jeder muss es wollen. So lange ich im Ausland war war ich auf der anderen Seite und habe auch gelernt, dass ich mich integrieren muss/will, wenn ich ankommen will. Das kann auch ein sehr sehr schönes Gefühl sein, weil man dann aufgenommen wird und "ankommt".

  • 10 Jahren ago

    Ein sehr herzliches Portrait eines besonderen Ortes, der so vielleicht auch nur in Berlin entstehen konnte. Sicher wird mich ein Besuch in Berlin auch dorthin führen. Danke für den sehr persönlichen Tip.
    Ob Integration ohne Assimilation gelingt und wie bereichernd sie für alle ist, ist immer sehr stark von den einzelnen Menschen und deren Lebenseinstellung abhängig – nicht immer und nur von deren Umfeld.

    Lieber Gruß,
    Katja

  • 10 Jahren ago

    Da muss ich unbedingt hin, wenn ich das naechste Mal wieder nach Berlin komme. Vielen Dank fuer das schoene Portraet!

  • 10 Jahren ago

    Jedes Lokal, jede Kneipe, jedes Café steht und fällt mir ihrem Betreiber. Nur er allein gibt die Prise Atmosphäre dazu, durch die die Lust am Moment, am Verweilen aufkommt oder nicht…

    Ein spannendes Porträt!

  • 10 Jahren ago

    Liebe Indra, danke für diesen wunderbaren Blick hinter die "Kulisse" dieses einzigartigen Cafés und Menschen. Danke, dass Du interviewt und erzählt hast, das ist so interessant und erinnert mich u.a. an den Film "Zimt und Koriander". Einer meiner liebsten…. Alles Liebe, Sabine

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