Sie war weit über meine Studienzeit hinaus eine Lehrerin für mich. Heute sind wir Freundinnen. Die Rede ist von Hazel Rosenstrauch, deren turbulentes Leben ich heute mit wenigen festen feinen Strichen nachzuzeichnen versuche. Eine Kohlezeichnung mit Bleistift.
Geboren wurde sie im St. Mary´s Hospital, dort wo 1874 das Heroin und 54 Jahre später das Penicillin erfunden wurde und diverse Berühmtheiten (im Lindo Wing) das Licht der Welt erblickten. Kennen und lieben gelernt hat sie ihre Geburtsstadt jedoch erst viele Jahre später. Eineinhalb Jahre nach ihrer Geburt siedeln ihre Eltern von London zurück nach Wien. Die Wiener Gesellschaft empfängt die jüdische Remigrantenfamilie nicht eben mit offenen Armen. Man duldet sie – das verlangt der Anstand. „Die einzigen, die die Emigranten offensiv zurückriefen, waren die Kommunisten“, erzählt Hazel Rosenstrauch, die im jüdisch-kommunistischen Nachkriegswien groß geworden ist. Die Verhältnisse sind ärmlich. Die Wohnung im Schmuddelbezirk Floridsdorf gleicht einer Ruine: einem Zimmer fehlt das Dach, dem Badezimmer der Boden. Der Vater bringt die vierköpfige Familie mit dem Import von polnischen Kohlen durch. Und doch erinnert sich Hazel an eine fast unbeschwerte Kindheit. „Tagsüber spielten wir mit den Nachbarskindern am Ufer der Alten Donau und in den Ruinen; mehrmals in der Woche trafen wir uns zu Heimabenden und die Ferien verbrachten wir im Kinderlager.“ Das jüdisch-kommunistische Umfeld ist ein Biotop, das die herrschenden Ressentiments gegen Kommunisten und den verdeckten Antisemitismus vor dem quirlig-lebendigen Mädchen mit dem schwarzen Lockenkopf und den blitzwachen Augen abschirmt. Dieser Schutzschirm reicht bis in die Grundschulzeit. Obgleich die Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Schriftstellerin immer wieder als ‚Judensau‚ beschimpft und von ihren Mitschüler/innen in die Hölle verdammt wird, erlebt sie ihre Schulzeit als weitgehend diskriminierungs- und konfliktfrei. „Es hat mir offenbar nichts ausgemacht“, überlegt Hazel und sucht nach einer Erklärung. „Ich vermute, es lag daran, dass ich selbstbewusst war und meine Eltern mich über die Gründe und Hintergründe aufgeklärt haben.“ Der Bruch vollzieht sich erst mit der Pubertät und zieht sich quer durch alle Lebensbereiche.
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Spätestens an dieser Stelle könnte die Geschichte kippen, die junge Frau das Gleichgewicht verlieren. Doch sie behält die Balance. Auf der mehrtägigen Überfahrt nach USA hat sie Bekanntschaften geknüpft, die sie jetzt aktiviert – mit dem Ergebnis, dass sie wenige Wochen später per Bus nach Kanada einreist. Dort kommt sie bei ihrer Reisebekanntschaft Frank, einem einfachen Handwerker aus Hamburg unter. Sie leben im Hause einer emigrierten Nazi-Familie. Ihre jüdische Herkunft bleibt zunächst streng geheim; erst als sie sicher ist, dass sie unabhängig davon geschätzt wird, lüftet sie das Geheimnis. Die Menschlichkeit behält Oberhand. Ein fast wildes Leben beginnt. Tagsüber verdient Hazel ihren Lebensunterhalt – die Jahre auf der Handelsakademie zahlen sich nun endlich aus – in der Canadian Imperial Bank of Commerce. Die freie Zeiten verbringt sie mit Frank und dem verrückten Holländer, dessen Name ihr partout nicht mehr einfallen will. In Franks hart erspartem Auto und auf den Spuren der Beat Generation erkunden sie die kanadische Provinz. So hätte es ewig weitergehen können. Doch der Wunsch nach höherer Bildung zieht Hazel zurück aufs europäische Festland. Nach rund einem halben Jahr verlässt sie Kanada, Frank und den verrückten Holländer, um nach nicht weniger spektakulären Umwegen 1965 das Studium der Germanistik an der Freien Universität Berlin aufzunehmen.
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‚Es ist auch nicht bloß Mitleid, wenn ich propagiere, die Männer zu emanzipieren; ich sehe vielmehr die Gefahr, daß, wenn die Frauen sich allein emanzipieren, politisch und im Sinne der Gleichberechtigung, sie eines Tages vor den Männern stehen werden, und die können nichts mehr mit ihnen anfangen, weil sie Angst haben, impotent zu werden, nicht die nötige Bestätigung zu bekommen; die Frauen werden dann die äußerst frustrierende Erfahrung machen, daß nach dem harten Weg zur Selbstständigkeit die Männer ihnen voller Bewunderung auf die Schulter statt auf die Schenkel klopfen und, was die Lust anbelangt, sich an die Weibchen wenden, vielleicht ab und zu ihre Ansprüche dem linken Über-Ich einflößen, auch mal mit so einer ins Bett gehen, aber im Endeffekt wird den Frauen doch nur die Souffragette oder die Verstellung übrigbleiben.‘
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Die Welt der Kleinverlage und Verleger/innen wird Hazel Rosenstrauchs Heimat bleiben ebenso wie das Schreiben. Zwar kehrt sie noch einige Male an die Alma Mater zurück, doch eine Hochschulkarriere – wie viele ihrer früheren Freundinnen und Freunde aus der Zeit der Revolte – beginnt sie nicht. „Karriere, beruflicher Erfolg – das war mir irgendwie nie wichtig genug.“ Stattdessen redigiert sie für den Argument Verlag und arbeitet kurzzeitig mit verwahrlosten Kindern aus Berlin-Neukölln (die Erfahrungen verarbeitet sie in ihrem Artikel Mit dem Taschenmesser im Urwald eine Eisenbahn bauen). Eine Lehrtätigkeit an der Fachhochschule für Sozialarbeit im Fachbereich Kinderbücher wird wegen Berufsverbot vereitelt. Also tritt sie die Nachfolge von Ulrike Meinhof bei der Zeitschrift konkret an. „Ulrike Meinhof war eine begnadete Kolumnistin. So gut wie sie wurde ich nie.“
Das unstete Leben endet, als sich Hazel Rosenstrauch Mitte 30 entschließt, der Stimme der Liebe zu folgen und ins beschauliche Tübingen zu übersiedeln. Sie beginnt neuerlich zu studieren und schließt eine Promotion über den Buchhändler und Verleger Philipp Erasmus Reich (*1717;†1787) an. Die Liebe zerbricht irgendwo auf dieser Strecke. „Ein Leben zu zweit – das ist mir nie so recht geglückt.“ 41jährig hält sie ihre gedruckte Promotion in den Händen und ihren Sohn im Arm. Es folgen verschiedene beruflich-akademische Stationen in Berlin und Wien, bis sie 1997 vorerst endgültig in Berlin sesshaft wird als Chefredakteurin der neu gegründeten Zeitschrift Gegenworte. An dieser Stelle kreuzen sich Hazel Rosenstrauchs und meine Wege.
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Eine bibliographische Auswahl |
1999 ist Hazel Rosenstrauch Gastdozentin am Institut für Europäische Ethnologie an der HU Berlin, wo ich seit 1998 studiere. Sie bietet ein Studienprojekt zum Thema Wissenschaftssprache an. Und da ich mit eben dieser hadere, bin ich neugierig, was die Frau mit dem interessanten Lebenslauf mit uns vorhat. Ich habe bei Hazel Rosenstrauch viel gelernt. Vor allem das Schreiben. Als denkendes Schreiben und schreibenden Denken. Noch allzu gut erinnere ich mich an den ersten Artikel, den ich für die Gegenworte schrieb. Gefühlt habe ihn mindestens 25 Mal überarbeiten müssen. Hazel spürte jeden unverdauten Sachverhalt und jeden unklaren Gedanken mit einer Zielsicherheit auf, die mich bisweilen ängstigte. Ganz gleich wie gut ich das Halbverdaute hinter wichtig-klingenden Passivkonstruktionen, Einschüben, Schachtelsätzen und Substantivierungen zu tarnen versuchte, sie fand es. Erst nach und nach begriff ich, dass es eben diese sprachlichen Unarten waren, die meine gedanklichen Schwächen offenbarten.
Hazel Rosenstrauch hat mich den Umgang mit Sprache gelehrt und blieb weit über meine Studienzeit eine wichtige Lehrerin für mich. Heute sind wir Freundinnen. Rückblickend sagt sie von ihrem Leben: „Manch einer würde vielleicht sagen, ich habe mich verzettelt. Aber ich finde, der liebe Gott – an den ich nicht glaube – hat gut für mich gesorgt. Mein Leben war nie fad.“ 2012 wurde die ‚Kulturhistorikerin mit einer Vorliebe für Stolpersteine‘ (Hanne Knickmann) für ihre ‚einzigartige Mischung von Beschreiben und Erzählen, profundem Wissen und spielerischer Spekulation, Sachlichkeit und Subjektivität, penibler Recherche und plausibler Hypothese, dem Sinn fürs Ganze und dem Blick fürs Detail‘ (Quelle) mit dem Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik ausgezeichnet.
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Bundesministerin Dr. Claudia Schmied, Hazel Rosenstrauch und Laudator Antonio Fian
im Kreis der Musiker von Kollegium Kalksburg (FOTO:HBF/Pusch)
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Liebe Indre, ich bin gerührt und sehr froh, dass wir einander kennengelernt haben und noch immer Freundinnen sind. DANKE DIR, das ist auch ne Herausforderung, weiterzumachen – mit Schülerinnen, Bücherschreiben, wasauchimmerweitergeben. Hazel
Hazel Rosenstrauch war in der Tat eine gute Lehrerin, das spürt man in jeder Zeile. Ein Leben, das sich lohnen würde, umfassender zu beschreiben – vielleicht dein nächstes Projekt?
Wünsche dir eine geruhsame Digital-Detox-Woche, Viviane
Liebe Indre, um diese Lehrerin beneide ich Dich aufrichtig! Danke für den inspirierenden Beitrag! Lebensläufe wie diese geben mir den Glauben zurück an die Vereinbarkeit von intellektuellem Anspruch und Integrität. Lieben Gruß, Anne
Dieses wunderbare Portrait hat mein Interesse an Hazel Rosenstrauchs Büchern und Texten geweckt. Vielen lieben Dank dafür!
Herzliche Grüße
Andrea
Oh, was für eine Kost! Ein Porträt, das neugierig und Lust macht auf mehr über/von Hazel Rosenstauch (was für ein Name!) Dank dir 😉 Lieben Gruß Ghislana
dank dir für dieses wunderbare portrait einer tollen frau!
Danke für diesen Blogbeitrag! Informativ, liebevoll und anregend ist er. Ich habe vor einigen Jahren das Buch über Caroline und Wilhelm von Humboldt gelesen, ist empfehlenswert.
Danke dir für die schöne Rückmeldung.