M i MA zügelt: Bülow 90. Kapitel 1 – Von schönen Mythen, schnöden Wahrheiten und vergessenen Tatsachen

7. Oktober 2014
Foto (c) Nicola Holtkamp

Vorwort
Die Protagonistin des heutigen Beitrags lernte ich vor einigen Monaten kennen. Sie war als Salonniere angefragt und ich sollte mir ein Bild ihrer Gastgeberqualitäten machen. Schon ihre äußere Erscheinung – obgleich heute eher schlicht – zog mich in ihren Bann; doch als sie mich mit dieser Mischung aus Berliner Schnauze und herrschaftlicher Großzügigkeit empfing, war ich verzaubert. Ich wollte mehr wissen über die ‚Bülow 90‘ und begab mich auf die Suche. Was ich fand, war so spannend, dass ich nicht mehr davon lassen konnte. Meine Privatforschungen sind längst nicht am Ende, doch heute wage ich mich mit dem ersten Teil der Kulturgeschichte durch die Fenster der Bülowstraße 90 an die Öffentlichkeit. Hintergrund und Anlass ist die Veranstaltung des Literatur-Salons Potsdamer Straße zur Geschichte des Fischer Verlags, der 39 Jahre in eben diesem Haus residierte.

Wer mehr über den großen Verleger, der am 15. Oktober vor 80 Jahren starb, den Verlag, die Autor/innen und das Verlagshaus erfahren möchte, ist am Donnerstag, den 16. Oktober herzlich in die Kunstsaele Berlin in der Bülowstraße 90 eingeladen. Es lesen und erzählen der ausgebildete Sprecher und passionierte Weinhändler Roland Kretschmer, die Schauspielerin Christiane Carstens, die beiden Autor/innen Sibylle Nägele und Joy Markert sowie meine Wenigkeit. Beginn ist 20 Uhr. Der Eintritt ist frei.

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Von schönen Mythen, schnöden Wahrheiten und vergessenen Tatsachen

Die Geschichte der Bülowstraße 90 verliert sich irgendwo zwischen Potsdamer und Zietenstraße. Bis hierhin kommen die zwei großen Terraingesellschaften, die das Gebiet zwischen Stadt Berlin und Dorfgemeinde Schöneberg seit 1872 Jahren in Anlehnung an die Pläne des preußischen Stadtplaners James Hobrecht bebauen: Der Berliner Bank-Verein rückt von Osten, die Berliner Bau-Vereins-Bank AG von Westen vor.* In kürzester Zeit verwandeln sie das ehemalige Acker- und Gartenland in eine Stadtlandschaft mit Mietskasernen und Bürgerhäusern – die Mietskasernen hatte Herr Hobrecht so nicht vorgesehen ebenso wenig wie den Bogen in der Bülowstraße. In seiner Vorstellung sollte sie schnurgerade in die Gneisenaustraße münden. Doch das hätte die Untertunnelung der Gleisanlagen bedeutet, was die Bahngesellschaften nicht bereit zu zahlen sind. Nach jahrzehntelangem Ringen einigt man sich schließlich auf die Umfahrung des Bahngeländes, was den Bau von 45 (!) Brücken mit sich bringt – schwer vorstellbar, dass dies die günstigere Lösung war. Sei´s drum. Zusammen mit der dichten Blockbebauung macht der ‚Bülowbogen‘ dem Hobrecht-Plan vom ’schöner Wohnen in Schöneberg‘ einen dicken Strich durch die Rechnung. Doch dazu mehr im nächsten Kapitel.

Die rege Bautätigkeit zwischen den Gleisanlagen und dem Nollendorfplatz gerät bereits ein Jahr später ins Stocken. 1873 platzt die Immobilienblase; die zwei Terraingesellschaften geraten in den Strudel der Gründerkrise und werden 1876 schließlich beide liquidiert. Wer die verbliebene Lücke zwischen Potsdamer und Zietenstraße schließt, ist nicht überliefert. Das bietet Raum für Mythen- und Legendenbildung. Und derer gibt es viele. Sie ranken sich um ‚große Männer‘, preußische Generäle und zu Geld gekommene Bierbrauer. Den genialen Verleger Samuel Fischer, der mit seinem Verlag dazu beitrug, dass die Bülowstraße 90 tatsächlich einmal ‚eine weltbekannte Adresse‘ war  [Peter de Mendelssohn], hat man derweil vergessen. Dimension und Interieur der Wohnungen verleiten jedoch auch zu herrschaftlicher Verklärung: 1000qm große 24-Zimmer-Wohnungen mit blattgoldveredeltem Stuck, malereiverzierten Deckenfresken und holzvertäfelten Wänden assoziiert man nicht unbedingt mit dem Verlagsgewerbe.

*Dem Berliner Bank-Verein gehört das Areal westlich der Bahngleise zwischen Dennewitzplatz, Kurfürsten-, Großgörschen- und Potsdamer Straße. In den Händen der Berliner Bau-Vereins-Bank AG liegt das Gebiet östlich des Nollendorfplatzes zwischen Mackensen- (heute Motz-), Kurfürsten-, Froben-, Winterfeldt- und Maaßenstraße. Bebaut hat Berliner Bau-Vereins-Bank AG bis zum Gründerkrach jedoch nur das Quartier Mackensen-/Motz-, Zieten-, Winterfeldt- und Maaßenstraße. Quelle: Helmut Winz, Es war in Schöneberg. Aus 700 Jahren Schöneberger Geschichte. Berlin 1964, S. 84
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Die erste Legende, die mir überliefert wird, erzählt von einem Haus, das um 1880 auf einem ehemaligen Holzplatz erbaut wurde. Es sei der erste Skelettstahlbau Berlins und zu Höherem bestimmt: Niemand Geringeres als der preußische Ministerpräsident sei ihm zugesprochen. Das ist zu jener Zeit Otto von Bismarck, der jedoch nie einziehen wird – wie überhaupt kein kaiserlich Beamteter. Eine andere Geschichte will, dass die Familie von Bülow höchstpersönlich hinter dem Bauvorhaben stünde und sich in der nach ihr benannten Prachtstraße niederlassen wollte (Namensgeber ist der preußische General und ‚Retter Berlins‘ Friedrich Wilhelm von Bülow, Graf von Dennewitz). Etwas hemdsärmeliger und doch nicht näher an der Wahrheit ist die Überlieferung der vermögenden Brauereifamilie, die sich und ihresgleichen im schönen Schöneberg großzügige Wohnungen erbauen ließ.

Wie so oft steckt (fast) in allem ein Körnchen Wahrheit, doch die ‚wahre Geschichte‘ der Bülow 90 verläuft anders – und ist deutlich weniger erhaben. Gefunden habe ich sie im Souterrain des Schöneberger Rathauses, wo sie zwischen den vergilbten Aktendeckeln im Bauarchiv schlummert. Die schweren halbzerfallenen Ordner enthalten alte Korrespondenzen, Bau- und Situationspläne, Urkunden und einige Fotos. Ihre Erzählweise ist eine ganz eigene: sehr prosaisch, eher formal und bisweilen ziemlich wortkarg. Doch am Ende ergab sich aus dem Staccato ein einigermaßen stringentes Bild.

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Auf dem Grundstück Bülowstraße 90 befindet sich im 19. Jahrhundert tatsächlich ein Holzplatz, genauer gesagt, ein Sägewerk. Eigentümer ist der Zimmermeister Carl Julius Hewald mit Wohnsitz in der nahe gelegenen Kurfürstenstraße 146 [Quelle]. Herr Hewald scheint kein Freund der Spekulation, sondern ein sehr bodenständiger Handwerker gewesen zu sein. Um ihn herum verkauft ein Eigentümer nach dem anderen (siehe Berliner Adreßbücher), der wilhelminische Mietskasernenring zieht sich immer enger um seinen Grund und die Terraingesellschaften signalisieren vermutlich auch ein ums andere Mal Interesse daran. Doch statt gewinnbringend zu verkaufen, geht er seinem – wahrscheinlich recht profitablem – Holzgeschäft nach. Die Haltung zahlt sich aus. Während in Folge des Gründerkrachs eine Terraingesellschaft nach der anderen in die Knie geht, errichtet Carl Julius Hewald 1874 einen ‚Arbeits- und Bretterschuppen nebst Wächterbude‘ – offenbar sieht er die Notwendigkeit, sein Eigentum bewachen zu lassen. Vielleicht ein Hinweis darauf, dass Verkaufsunwillige manchmal mit krimineller Energie zum Umdenken angeregt werden sollten?

Kurz nach Fertigstellung der neuen Schuppen und der Wächterbude geschieht etwas: 1876 wird Frau E. Hewald (Rentier) als Eigentümerin des Grundstücks Bülow 90 im Berliner Adreßbuch geführt. Ein Situationsplan aus dem Jahre 1877 weist den Großteil des Geländes als Holzkohlen-Platz eines gewissen Herrn C. J. Patzky aus – Eigentümerin: Frau Ww. Hewald. Carl Julius ist also verstorben, die Witwe nicht fähig oder willens, den Holzbetrieb fortzuführen und offenbar kann sie gut von den Pachteinnahmen leben. Sie ist noch weitere 18 Jahre als Eigentümerin der Bülowstraße 90 in den Berliner Adreßbüchern zu finden. Erst 1896 geht das Grundstück in den Besitz der Actien-Gesellschaft für Bauausführungen über, die hier ein Wohnhaus errichten lässt.
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Die Nachtragszeichnung II zum Neubau eines Wohnhauses auf dem Grundstück Bülowstraße 90/91 zeigt, dass das Haus ursprünglich eine schmuckreiche Fassade und Dachgestaltung hatte.

In einem Schreiben an das Königliche Polizei Präsidium Abteilung III bittet sie am 28. August 1897 um ‚Gebrauchsabnahme‘ des Neubaus. Nur wenige Wochen später zieht der Fischer Verlag ein: ‚Ende September 1897 trägt der Briefkopf des [Fischer] Verlags mit der Adresse Steglitzer Straße 49 [heute: Pohlstraße] bereits den Gummistempelüberdruck: „Jetzt Bülowstraße 90/91“, und bald darauf erscheint der sehr schlicht aus dem Setzerkasten hergestellte Briefbogen mit der neuen Anschrift.‘ [aus: Peter de Mendelssohn: S. Fischer und sein Verlag, S. 230] Samuel Fischer zählt also zu den Mietern der ersten Stunde.

Was den Mythos vom ersten Skelettstahlbau Berlins anbelangt, so findet sich in den Bauunterlagen kein Beweismaterial. Zwar hat sich die Actien-Gesellschaft für Bauausführungen um die Jahrhundertwende auf Stahlbeton-Hochbauten spezialisiert, doch erst das 1912 eigens für S. Fischer erbaute Verlagsgebäude im zweiten Hinterhof ist nachweislich eine ‚Eisenkonstruktion‘. Es wird übrigens – so viel sei an dieser Stelle vorweggenommen – im Jahr 1987 abgerissen, und weder die Wohnungsgesellschaft ‚Neue Heimat‘ sowie ihre Rechtsnachfolgerinnen WIR und Gewobag noch die Bewohner/innen der Bülowstraße 90 scheinen zu wissen, welch historisch bedeutsamer Gebäudetrakt da unter den Hammer kam. Doch dazu später mehr. 

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Heute ist die äußere Erscheinung des Hauses Bülow 90 eher schlicht. 

3 Comments

  • 10 Jahren ago

    spannend! bitte weiter!

  • 10 Jahren ago

    Oh wow, toller Artikel! Und so spannend! Ich freu mich schon auf eine Fortsetzung….:) sowas interessiert mich als Kunsthistorikerin natürlich sehr und ich finde es immer wieder spannend solche Recherchen zu betreiben. Ich recherchiere gerade noch ausführlicher über meine, schon abgegebene, Masterabeit zum Thema bayerisch-schwäbische Landadelsgeschlechter. Dazu werd ich aber nie einen Blogeintrag schreiben, das is glaub zu trocken :DDD

    • 10 Jahren ago

      Danke. Das freut mich sehr. Ich stelle mir übrigens auch die bayerisch-schwäbischen Landadelsgeschlechter recht spannend vor. 😀

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