KW 29 #EineBegegnung

22. Juli 2016
Zeichnung, Adolf Wölfli, Art Brut, Schizophrenie, Outsider Art
Zeichnung von Adolf Wölfli {via Wikimedia Commons}

Mitten im Reden hielt sie plötzlich inne, sah mich an mit scharfem Blick: „Bist du Indre?“. Ich erschrak und mein „Ja“ klang seltsam hohl. Sie schob das Kinn nach vorn, legte den Kopf schief und das Gewicht aufs rechte Bein: eine schüchterne Krähe mit zerzaustem Gefieder. „Aus Celle?“ Ich zögerte, suchte nach Alternativen und brachte doch nur ein „Ja“ hervor. Ihr Blick wurde schärfer; sie taxierte mich von oben bis unten. Eine gefühlte Ewigkeit, in der ich nach Sätzen suchte, die aus der geschlossenen Frage führten. Ergebnislos. Abrupt wandte sie sich ab: „Scheiße. Wie scheiße du aussiehst“. Die Worte richteten sich kaum mehr an mich. Sie hatte sich wieder ihren inneren Stimmen zugewandt. Ich blieb merkwürdig verloren zurück.

Die Begegnung trug sich vor rund sechs Wochen in einem dieser scheußlich-schönen Center an der Frankfurter Allee zu. Es war nicht die erste, aber die einzige dieser Art. Bisher hielten wir es mit Blickkontakten, obwohl wir uns längst erkannt hatten. Schon beim allerersten Mal. Das war vor gut einem Jahr. Sie war in schlechter Verfassung: die Haare wie in rasendem Zorn rasiert, die Kleider schmutzig und viel zu groß, löchrige Schuhe, rotverquollene Hände. Und so viel Wut.

Ich kam mit Ma. die Straße entlang als sie uns überholte und sich in den nächsten Hauseingang schmiß. Am Boden liegend mit dem Kopf an der Wand zischte sie Ma. im Vorübergehen an. Man verstand es nicht, aber Ma. bekam Angst. Am Abend wollte sie nicht schlafen. Sie fürchtete, die Frau würde vor ihrem Fenster stehen, mit diesem wilden Blick. Nichts half. Kein Argument, kein Zureden. Erst als ich ihr erzählte, dass ich die Frau, Moni*, kenne, wir vor vielen Jahren zusammen eine WG gründen wollten und sie wohl zornig, nicht aber böse sei, beruhigte sie sich. Mich lässt sie seither nicht mehr los.

So oft sich unsere Blicke trafen, war ich versucht, etwas sagen. Doch welches Wort könnte die Kluft überbrücken, die zwischen unseren Leben liegt? Welcher Satz würde durch ihr Stimmengewirr zu ihr führen? „Trinkst du einen Kaffee mit mir“? Vielleicht.

Das letzte Mal, dass ich Moni sah, liegt zwei Wochen zurück. Es war frühmorgens auf der Frankfurter Allee. Von Zuckungen geplagt redete sie wild und schlug sich ins Gesicht. Sie sah mich nicht, sie blickte durch mich hindurch. Und ich ging wortlos an ihr vorüber. Wie es ihr wohl geht?

*Name geändert


… und mit der obligatorischen Liste und guten Wünschen verabschiede ich mich in das Wochenende.

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