»Komplex, konfus & gerne auch präzise« von Hazel Rosenstrauch

15. März 2017

Jeden 2. {manchmal auch 3.} Mittwoch im Monat hinterfragt meine Freundin und einstige Lehrerin Hazel Rosenstrauch das aktuelle »Weltgeschehen« mit kulturhistorischer Anteilnahme. Ihre erste Glosse drehte sich um Kommunikationsformen im Wandel der Zeit; die zweite nun kreist um die Frage von Engagement und Haltung in unübersichtlichen Zeiten.

Konsum, Masse, richtiger Konsum, Minimalismus, weniger ist mehr, ieva Jansone, Photographie

»Komplex, konfus & gerne auch präzise«

von Hazel Rosenstrauch

Man müsste, man sollte… in Zeiten wie diesen sich politisch engagieren. Das höre ich von Jüngeren, die in unsere real existierenden Freiheiten hineingewachsen sind (ob sie die Anspielung auf den real existierenden S. noch kennen?), von R. (21 Jahre), aber auch von S. (um die 40) und von 50-Jährigen, die die Hausbesetzerszene oder Anti-Atomkraft-Bewegung noch kennengelernt haben, und dann hallt noch dieser Satz meines 30-jährigen Sohnes nach: »Ihr habt die Erfahrung, gebt sie uns weiter.«


»Er wollte Gedichte schreiben, aber seine Partei verlangte nach Parolen, denn es war Krieg


Mit dem berühmten lachenden und weinenden Auge nehme ich die Rolle an. Die alte Frage lautet: »Was tun?«, um ein berühmtes Buch zu zitieren, das 1902 geschrieben und interessanterweise 2010 neu aufgelegt wurde. In den 1960er und 70er Jahren war Lenin noch eine Referenz. Heute beneide ich all jene, die wissen, was zu tun wäre. Meine Generation ist von Zweifeln befallen, obwohl in den letzten Jahren Oldies oft mutig und radikal vor-gedacht haben (zuletzt Bernie Sanders). »Radikalität gehört zu den Privilegien der Jugend« ist einer dieser Schlüsselsätze, die ich mir nur ungern zu Herzen nehme. Es gibt tolle Entwürfe, aber es ist eben auch alles so furchtbar komplex.

Viele gut gemeinte Engagements sind verdreht oder missbraucht worden, die Dinge haben sich anders entwickelt, als wir uns erträumten – und wenn ich in meinem Bücherschrank nachschaue, ging das vielen Generationen vor mir auch schon so. Zum x-ten Mal nehme ich zwecks Beruhigung das kleine Heftchen »Über die Verfinsterung der Geschichte«* mit den Dialogen von Alexander Herzen aus dem 19. Jahrhundert zur Hand.

Demonstrationen, Unterschriften, Vereine, Initiativen, Wahlen, Plattformen, Protestbriefe sind vielleicht überholt… und doch ist vieles besser geworden, als es in den 1960er und auch noch in den 80er Jahren war. Als die lebendige, vielseitige Studentenbewegung in sektiererische Sekten zerfiel, habe ich diese Frage – wo und wie kann oder soll ich mich engagieren – einem Freund meiner Eltern gestellt. Er erzählte mir von den Auseinandersetzungen der 1930er und 40er Jahre, die ihn geprägt hatten.

Damals wollte er Gedichte schreiben, aber die Partei, der er im Exil angehörte, verlangte nach Parolen, denn es war Krieg. Von ihm habe ich gelernt, dass jede/r das machen soll, worin er oder sie gut ist, ich solle mich nicht zwingen und nicht überreden lassen.


»Es scheint mir derzeit besonders wichtig, einen Gestus in der Welt zu halten, der gegen die Monokultur aus Hektik, Trumpf, Behauptung bzw. Resignation helfen könnte.«


Geprägt vom 20. Jahrhundert und seinen großen Antworten habe ich eine Schwäche für scheinbar unwichtige Nebendinge entwickelt: Widersprechen, Vernunft walten lassen, Zeit zum Nachdenken herausschinden, Informationen beschaffen und nicht nur die Katastrophen wahrnehmen, eher so lange recherchieren, bis auch die ermutigenden Projekte ins Blickfeld kommen… und davon erzählen. Kürzlich war ich zwei Wochen in London und als ich zurückkam, fiel mir auf, wie sehr hier ständig Alarmstimmung herrscht (und dort hatten sie mit ihrem Brexit wahrlich Grund genug, über die Katastrophe zu klagen).

»Katastrophitis« ist ansteckend, sie macht dumm, weil sie zu Panik verführt. Konfusion war immer; es gab »früher« nur übersichtlich wenige hör- und lesbare Stimmen, die Fakten und Fakes sortierten oder Antworten boten (die unüberschaubare Fülle wurde gleichwohl schon zu Zeiten der massenhaften Verbreitung von Illustrierten oder nach der Erfindung des Radios beklagt).

Aus Misstrauen gegen alles, was eine Lösung verspricht, scheint es mir derzeit wichtig, einen Gestus in der Welt zu halten, der gegen die Monokultur aus Hektik, Trumpf, Behauptung oder auch Resignation helfen könnte (eventuell neben den alten und noch nicht überholten Formen von Engagement): Aufschauen vom Bildschirm, die unbezahlbaren und unbezahlten Haltungen würdigen, lachen, (zu)hören, (nach)fragen, Nichtwissen oder auch Unsicherheit aushalten, selbst denken und andere zum Denken verlocken, zivilisiert agieren, gerne spüren, aber nicht aufs beliebte Bauchgefühl vertrauen. Und dann ist da noch diese Geschichte mit der Phantasie.

Nicht, wie eine Parole der 60er Jahre hieß, »an die Macht« mit ihr, aber »an die Arbeit«. Es ist (uns) lange gut gegangen, wir sind verwöhnt und brauchen neue Ideen. Immer schon musste erst gedacht, diskutiert und phantasiert werden, bevor Erfindungen, Erkenntnisse und Perspektiven entwickelt werden konnten. Wie war das noch mit dem berühmten Denker? »Ich spinne, darum bin ich.«


Buch von Alexander Herzen und Lenin

*Das Büchlein von Alexander Herzen wurde »eingerichtet für das Jahr 1984« von Hans Magnus Enzensberger und herausgegeben in der {kürzlich verendeten} Friedenauer Presse. | Fotos: Lando Jansone

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