Die Landschaft flog an uns vorüber; kaum möglich, etwas von ihrer Schönheit zu erhaschen. Berto war im Geschwindigkeitsrausch und die Luft hier oben kalt. Wir hüllten uns in unsere Tücher; rechterhand ergoß sich in milchigem Licht glitzernd und schön der Parawani, im Wagen eine dröhnende Stille. Das Tempo hatte uns die Sprache verschlagen; erst ein Schlagloch holte sie zurück, samt Beulen und blauen Flecken. Wir waren auf dem Weg nach Chertwissi.
Der Parawani (georgisch ფარავანი) liegt auf 2.073 Meter in der Dschawacheti-Hochebene im Kleinen Kaukasus in der Region Samzche-Dschawachetien und ist mit 37,5 Quadratkilometern der größte See des Landes.
Das Frauenkloster in Poka stammt aus dem 11. Jahrhundert und wird noch heute von Nonnen bewohnt. Es wurde an jener Stelle erbaut, an der die Heilige Nino, die der Überlieferung nach das Christentum nach Georgien gebracht hat, ein Weinrebenkreuz errichtet haben soll.
Link- und Lektüretipps
- Reiseführer Samtskhe-Javakheti (georgisch/englisch)
- Georgien: hypermodern und erzkonservativ (Deutschlandfunk Nova)
- Architektur in Georgien (Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur)
- Das verunsicherte Paradies (Deutschlandfunk)
- Georgisches Kulturzentrum Berlin
Das kleine Dorf mit der großen Festung liegt in der Region Samzche-Dschawachetien, die seit 1995 die drei historischen Provinzen Javakheti, Samtskhe/Meskheti und Tori umfasst. Samtskhe-Javakheti gilt als ältester Teil Georgiens. Hier, in unmittelbarer Nähe zu Armenien und zur Türkei, habe die georgische Kultur ihren Ausgang genommen, heißt es, und Chertwissi spielt dabei eine nicht unwichtige Rolle.
2.000 vor Christus wurde hier die älteste Burg des Landes errichtet, und obwohl sie im Laufe der Jahrhunderte diverse Male überfallen und zerstört wurde, entwickelte sie sich im 10./11. Jahrhundert zum Zentrum der Region Meskheti. Diese Zeit endete jäh im 13. Jahrhundert, als die Mongolen unter Batu Khan in Georgien einfielen und die Festung als Stützpunkt einnahmen. Später wirkte hier der ein oder andere Fürst; zu bedeutender Größe fand der Ort nicht mehr zurück. Seit 2007 steht die restaurierte Ruine auf der Vorschlagsliste für UNESCO-Weltkulturerbe-Stätten.
Auf dem Weg nach Chertwissi
Doch all das erfuhren wir erst später, denn bis Chertwissi war es noch ein weiter Weg. Weiter als angenommen. Eigentlich wollten wir am Kloster von Poka Halt machen, Mathias aber fürchtete, wir würden unsere Unterkunft nicht mehr vor der Dunkelheit erreichen (tatsächlich kamen wir lange vor Sonnenuntergang an und das Hotel war bereits geschlossen. Für immer). Also eilten wir rasch in den Klosterladen und deckten uns mit allerlei Köstlichkeiten ein: Schokoladen, Gewürze, Salze, Konfitüren. Als Mitbringsel und Erinnerung. Am Ende wurden es die Heuhaufen, die sich in mein Gedächtnis brannten, und die aus Kuhdung-Briketts geschichteten Türme (sie werden gegen die eisige Kälte im Winter (bis zu -20°C) gebraucht).
Gegen späten Nachmittag erreichten wir Chertwissi. Ein winziges Dorf unterhalb einer mächtigen Festung am Ufer des Mtkwari/Kura, für dessen Schönheit man nicht allzu viel übrig zu haben schien. Müll und Unrat säumten seinen Lauf. Während wir die Burg erklommen, organisierte Berto – Meister der Improvisation – eine Notunterkunft und ein Abendessen unterm Maulbeerbaum. Es war ja, was ich immer wieder vergaß, mein Geburtstag. Der Mann wurde wider Willen zum Tamada erklärt und meisterte die neue Herausforderung mit Bravour. M. initiierte eine Tanzpartie: ohne Internet unterm Sternenhimmel mit den spärlichen Downloadbeständen meines Smartphones. So endete ein guter Tag fürs Älterwerden.
Besuch in der Höhlenstadt Wardsia
Kaum gefrühstückt ging es am nächsten Morgen weiter Richtung Kedlebi. Die lange Nacht unterm Maulbeerbaum, der Maulbeerschnaps und die Notbetten hatten ihre Spuren hinterlassen. In die verkaterte Stille hinein rief Mathias plötzlich: »Ich habe eine Überraschung für euch!« Und da sahen wir sie auch schon: die Höhlenstadt Wardsia bzw. die durchlöcherte Wand des Eruschetis.
»Tamar, wo bist du?«, rief der Onkel, der seine kleine Nichte während der Jagd im Tal gelassen hatte. Diese war die Felswand emporgeklettert und nicht mehr zu sehen. Doch sie hörte seine Stimme und antwortete: »Aka war, Dsia! (Hier bin ich, Onkel!).« Als sie später Königin wurde, gab sie der Stadt eben diesen Namen: Wardsia.
So geht die Legende zu dem imposanten Bauwerk, das König Giorgi III im 12. Jahrhundert als Grenzfestung gegen Türken und Perser erbauen ließ und seine Tochter Tamar später um ein Kloster erweiterte. Die bestbewehrteste Festung Georgiens umfasste gut 2.000 Säle und Kammern auf 16 Stockwerken, die bis zu 70 Meter tief in den Berg geschlagen und über kilometerlange Querstollen miteinander verbunden waren. Über ein unterirdisches Reservoir wurden die Bewohner*innen mit Wasser, über ein raffiniertes Belüftungssystem mit Frischluft versorgt. In der Stadt gab es Schatzkammern, Bibliotheken, Bäckereien, Ställe und Badebassins. Ein schweres Erdbeben brachte im Jahr 1283 einen Großteil der Stollen und Höhlen zum Einsturz, so dass heute »nur« noch 750 Räume auf einer Fläche von etwa 900 Quadratmetern erhalten sind. Beeindruckend geblieben und einen Besuch wert ist das Bauwerk allemal.
Über den staubigen Goderzi Pass ins üppige Grün
Bis Sarsma war die Straße asphaltiert. Ein Luxus, wie wir nach 1.000 Kilometern endlich begriffen hatten. So Berto nicht vom Geschwindigkeitswahn erfasst wurde, war Asphalt ein Garant für Entspannung. Die endete jäh nach unserem Besuch des gleichnamigen georgisch orthodoxen Klosters und rückte hinter dem Goderzi Pass in gänzlich unerreichbare Ferne. 30 Kilometer Baustellenschotter lagen vor uns – und um uns dichter Staub. Nach sechs Jahren hatte der georgische Staat beschlossen, sein Versprechen doch einzulösen und die Straße zum EU-geförderten Goderdzi Ski Resort auszubauen. Rund 60 Millionen Euro hatte Europa in das Tourismusprojekt im Kleinen Kaukasus gesteckt, das für Tourist*innen quasi unzugänglich und für Skiabenteuer*innen darum bis heute ein Paradies geblieben ist (siehe hier).
Mit staubverkrusteten, brennenden Nasen erreichten wir nach einem weiteren Tag auf Georgiens Straßen unsere Pension. Sie lag oberhalb das Städtchens Kedlebi und nahm uns mit georgischer Herzlichkeit und üppigem Grün in Empfang. Eine Wohltat für unsere durchgerüttelten Seelen, die am nächsten Tag auf die Probe gestellt werden sollten. Ich sag nur: »Batumi kills me«. Aber davon dann beim nächsten Mal.