In 17 Tagen durch Georgien Teil III: Von Kachetien nach Niederkartlien. Oder von Urmenschen, Siedlern und der Kunst des Essens

25. September 2018

»Jedem Reisenden, der das Glück hatte an einem georgischen Supra (სუფრა; Festmahl) teilzunehmen, wird diese in Erinnerung bleiben.« Silvio Mohr-Schaaf

Uns wurde dieses Glück gleich zweimal zuteil. Erstmals ereilte es uns nach unserer Wüstentour, auf der ich der Höhenangst verlustig wurde. Das zweite Mal am Schwarzen Meer. Beide Male kam ich aus dem Staunen kaum heraus: Tafeln, die sich unter Speisen bogen, Trinksprüche so tiefsinnig und schön wie Poesie und eine Geselligkeit, die ihresgleichen sucht. Die Harmonie der Tafelrunde herzustellen, ist Aufgabe des Tamadas. Der Tischmeister, zumeist der Herr des Hauses, ist Meister der Atmosphäre. Mit Aufmerksamkeit und Feingefühl lenkt er Ton, Tonalität, Inhalt und Verlauf der Gespräche und sorgt dafür, dass jede*r mit jeder und jedem im Kontakt bleibt, ganz gleich wie groß die Gesellschaft ist. Allzu gern hätte ich mich einmal als Tamada versucht, doch diese Rolle ist traditionell den Männern vorbehalten – und Georgien ist traditionell und konservativer denn je.

Die georgische Supra. Eine graphic Novel von Sina Greinert und Zaza Uta RöttgersVielleicht habt ihr Lust, Sinas und Utes Projektidee einer Graphic Novel über das georgische Supra zu unterstützen? Dann hier entlang.

»Von der Kultur der Gastfreundschaft könnte Deutschland sich ein Stück abschneiden«, flüsterte mein Mann. Die Familie Elenis*, Matthias* ehemaliger Deutschschülerin, hatte ihn mitsamt seiner Reisetruppe in ihr Sommerhaus geladen.

Zu Besuch bei Eleni

Die zweistöckige Stadtvilla lang am Rand von Sagaredscho, umgeben von einem herrlichen Obstgarten. Die überreifen Früchte fielen uns förmlich in den Mund: Feigen, Kirschen, Birnen, Äpfel, Pflaumen, Maribellen, Weintrauben. Nach einem herzlichen Willkommen hieß man uns auf der Veranda im Schatten des Hauses Platzzunehmen. Sofort wurden Speisen und Getränke gebracht: Brot, Käse, Tomaten, Gurken, Salate, gefüllte Auberginen (Badridschani), Aufstriche aus Spinat, Kräutern, Roter Bete, Lauch und Walnüssen (Pkhali), Rote-Bohnen-Suppe (Lobio), Hähnchen- und Lammeintopf (Tschachochbili und Tschanachi), Käsefladen (Chatchapuri); dazu allerlei Soßen und Pasten aus Walnüssen (Baji), Mirabellen (Tkemali) und Peperoni (Adschika), und natürlich Chinkali, die berühmten mit Lammhack gefüllten Teigtaschen, Wein und Limonaden in allen Farben und Geschmäckern.

Das Mzwadi lag noch auf dem Grill; die Männer fachsimpelten über die richtige Zubereitung dieser georgischen und angeblichen Urform des Schaschliks; die drei Töchter erklärten uns derweil (auf deutsch) die Zusammensetzung jedes einzelnen Gerichts und warum welches ihr liebstes war (Eleni liebte Jonjoli, in Salzlake eingelegte Blüten der Pimpernuss). Einen umfassenderen Überblick über die georgische Küche, die nicht umsonst als »Haute cuisine der Sowjetunion« galt, hätten wir kaum bekommen können.

»Ein georgisches Sprichwort«, Matthias musste unsere Verwunderung bemerkt haben, »lautet: Der Gast ist ein Geschenk Gottes.« Das erklärte die Wärme und Großzügigkeit, mit der die Familie uns Fremde empfing.

»Wer ein Supra veranstaltet, teilt alles, was er oder sie besitzt, mit seinen Gästen: das Heim, das Essen, den Wein, aber auch die Unterhaltung und die Gespräche. Ein Supra ist eine Zusammenkunft zum Essen, aber auch zum Austausch von Gedanken und Ideen (…).« Tiko Tuskadze

Einblicke in die Kulturgeschichte Georgiens

Es wurde ein langer Abend, der uns nicht nur Einblicke in die Kulinarik des Landes, sondern auch in seine Geschichte und das Leben einer (besser situierten) georgischen Familie schenkte. Vor allem Nino*, Elenis Mutter, ließ uns großmütig an ihrem Wissen teilhaben; und nach diesem ereignisreichen Tag war es eine Wohltat, ihrer ruhigen, sanften Stimme zu lauschen. Sie sprach ein melodisches Englisch, das sich – so erzählte sie – in ihrer Zeit in den USA gebildet hätte, aber so ganz und gar nicht amerikanisch klang.

Den nächstbesten Trinkspruch nahm sie zum Anlass, uns von der jahrtausendealten Weinkultur zu erzählen (Georgien ist die Wiege des Weinbaus), die während Sowjetzeiten zum Erliegen kam (wer gäbe sich schon Mühe, wenn eh alles an die Zentralregierung ginge?). Seit einigen Jahren würde der Weinbau eine Renaissance erleben. Allerorts entstünden kleine Güter, von denen viele ihre Weine wieder in den riesigen Tongefäßen nach der jahrtausendealten Kvevri-Methode herstellten.

Auch dass die Dichtung in der georgischen Literatur von jeher eine größere Rolle spielt als die Prosa, Juden eine zwar kleine, aber eigenständige ethnische Gruppe bilden und die 1990er Jahren das Land bis heute prägen, erfuhren wir von ihr.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion sei die Wirtschaft Georgiens, das ob seines Reichtums lange die »Schweiz des Kaukasus« genannt wurde, kollabiert. Tagelang, erzählte Nino, hätte es keinen Strom gegeben und kaum Wasser; jede*r vierte Georgier*in sei arbeitslos geworden und die Armut und das Elend groß. Während des blutigen Bürgerkriegs (1992/1993) seien hunderttausende Menschen geflohen und viele tausend ums Leben gekommen.

Ihre Stimme veränderte sich: »Für meine Töchter ist all das Geschichte.« Es klang, als müsse sie sich diese Tatsache in erster Linie selbst vergegenwärtigen. Nach 25 Jahren war die Vergangenheit noch immer präsent. Als läge all das nur einige Monate zurück. Wenn wir mehr über diese Zeit erfahren wollten, sagte sie nach einem Moment des Innehaltens, so empfehle sie uns Archil Kikodzes Roman ‚Der Südelefant’« (liegt auf meinem Nachttisch).

Zughrughascheni Kirche Bolnissi Georgien
Glockenturm der Zughrughascheni-Kirche
Begegnung mit den ersten Menschen

Am nächsten Morgen ging es weiter gen Südwesten. Unser erstes Ziel war das Archäologische Museum in Dmanissi, dessen hominine Fossilien die Grundfeste der Paläo-Anthropologie seit 1991 erschüttern. Die jüngsten Funde widerlegen die über Jahrzehnte gültige Annahme, wonach neben dem modernen Menschen, der sich vor etwa zwei Millionen Jahren in Afrika herausbildete, eine Vielzahl weiterer Arten existierte. Die Schädel und Knochen, die man auf dem Dmanisi-Plateau fand, deuten vielmehr darauf hin, dass es nur eine einzige, nämlich den »homo erectus« gab, der (wie der heutige Mensch) regional sehr verschieden aussah.

Begeistert erzählte Teona Shelia (Managerin im Vermittlungsprogramm) von den Forscher*innen, die aus aller Welt und allen Disziplinen hierher kämen, um neue Erkenntnisse über die Entstehung und Leben der Urmenschen zu gewinnen. »Das Plateau war über viele Jahrtausende dicht besiedelt«, schwärmt sie, »es ist eine  wahre Fundgrube.« Gerne hätte sie uns die neue Ausgrabungsstätte gezeigt, die noch größer und moderner sei und immer neue hominine Relikte zutage förderte, doch die Zeit lief uns davon.

Unser Weg in die Urgeschichte der Menschheit führte uns an zwei Kirchen vorbei: der ältesten Kirche Georgiens, der Sioni-Kirche aus dem 5. und der Zughrughascheni aus dem 12./13. Jahrhundert, beide nahe der Stadt Bolnissi, dem ehemaligen Katharinenfeld, das ich allzu gern einmal gesehen hätte. Doch die Zeit, die Zeit…

Deutsche Siedler*innen in Georgien

Bis zur Besetzung durch die Rote Armee im Jahr 1921 hatte hier eine Gruppe von sogenannten Kaukasiendeutschen gelebt. Die strengen Pietistist*innen waren Anfang des 19. Jahrhundert aus Württemberg vor Hunger und Not in den Kaukasus geflohen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten (vor allem das Klima machte den Exilschwaben zu schaffen) hatten sie auch wirtschaftlich Fuß gefasst. Ende des 19. Jahrhunderts lebten rund 35.000 Deutsche in Georgien. Sie blieben vielfach unter sich und pflegten ihre mitgebrachten Traditionen, sei es die Sprache, das Brot, Bier oder Bauen (die Häuser der deutschen Siedler*innen fielen mit ihren hohen Giebeldächern und dem Fachwerk sofort ins Auge). Während die Deutschen (wie alle Migrant*innen) unter der Herrschaft von Katharina der Großen sämtliche Freiheiten und Rechte genossen, änderte sich dies mit dem Aufkommen des Panslawismus (der romantischen Idee eines alle slawischen Völker umfassenden/vereinenden Nationalismus) ab 1870.

Mit dem Aufbau des Sozialismus und der Verstaatlichung sämtlichen Grundbesitzes verschlechterte sich ihre Lage nochmals, und als Deutschland die Sowjetunion 1941 überfiel, gerieten alle, auch die Kaukasiendeutschen unter Verdacht und wurden nach Sibirien und Kasachstan deportiert.

Tag 8 unserer Reise endete mit einem Abendessen in Dmanisi. Wir waren in einem Familienhotel untergekommen und fühlten uns sehr wohl. Gegen eine zweite Übernachtung hätten wir nichts einzuwenden gehabt, doch nach meinem Geburtstagsfrühstück machten wir uns  sogleich – mit obligatorisch überhöhter Geschwindigkeit – Richtung Khertvisi auf, wo wir versetzt wurden und in einer »Notunterkunft« landeten. Das sollte nicht das erste und letzte Mal sein. Doch davon dann ein ander Mal.

*alle Namen geändert

1 Comment

  • 5 Jahren ago

    WOW echt toll zu lesen! Georgien hat mich schon immer gereizt! Wirklich schön von der Reise zu lesen.

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