Fortschritt ist eine unrunde Kugel | Hazel Rosenstrauch

13. September 2017

Es gibt viele merkwürdige Dinge, über die ich staune, weil ich die 1970er und 80er Jahre erlebt habe. Dazu gehört das Internet, das Selbstbewusstsein von Frauen, gehören kinderwagenschiebende Männer, Reisen ohne Pass und Grenzkontrollen quer durch Europa … auch wenn das inzwischen eingeschränkt wurde. All das nehme ich inzwischen gelassen hin.

Eine historische Pirouette, die ich (noch) nicht verstehe, geht mir immer dann durch den Kopf, wenn ich höre, dass erstaunlich viele Frauen sich heute auf mehr und weniger legalen Wegen bemühen, Kinder zu kriegen. Wir haben verzweifelt nach  Adressen von Ärzten gesucht, die uns halfen, Kinder nicht zu kriegen. Was ist da passiert? Wieso sind wir so oft ungewollt schwanger geworden und jetzt werden Frauen, die wollen, es nicht? (Es wäre interessant zu prüfen, ob hierzulande nicht erlaubte Operationen zur Herstellung von Wunschkindern im Ausland in denselben Kliniken gemacht werden, die uns damals beim Abtreiben halfen.)

Einige Spätfolgen stimmen mich zuversichtlich. Andere Entwicklungen dienen mir als Trost und Beweis, dass auch leisere Aktionen irgendwann vom Rand in die Mitte der Gesellschaft rutschen und akzeptiert werden können.

Einige Spätfolgen stimmen mich zuversichtlich. Ich denke gerne an die Abschaffung der Prügelstrafe, des § 218 und § 175, für die viele laute Proteste nötig waren. Andere Entwicklungen dienen mir als Trost und Beweis, dass auch leisere Aktionen irgendwann vom Rand in die Mitte der Gesellschaft rutschen und akzeptiert werden können. Altersbedingt fühle mich genötigt, die Alt-68er zu verteidigen, denen gern der Verfall der Moral vorgeworfen wird (im Unterschied zu den Alt-33ern, die bei diesen Klagen über die Zerstörung abendländischer Werte kaum je erwähnt werden). In der aktuellen Diskussion über Abgase und große Autos, in denen nur eine Person (übrigens oft eine Frau) sitzt, denke ich an den roten Punkt. Wer den auf der Windschutzscheibe hatte, nahm andere mit, das war ein Akt der Solidarität und diejenigen, die mitgenommen werden wollten, waren meist erkennbar an langen Haaren und schmuddeligem Outfit.

Heute sind es Bäuerinnen oder Dorfbewohner, die in den nächsten Ort wollen, für die ähnliche Mitfahrgelegenheiten von der Stadt oder dem Kreis angeregt und unterstützt werden. Wenn der SUV in der zweiten Spur bei laufendem Motor lange rumsteht, überlege ich, ob ich wie in Zeiten der Ölkrise, den daddelnden Mann hinter dem Steuer ansprechen und bitten soll, dass er den Motor abstellt. Auch die Industrie hat unsere Anregungen übernommen, heute gibt es Autos, bei denen sich der Motor automatisch bei der Kreuzung abstellt (allerdings habe ich mir sagen lassen, dass dies kaum Energie spart).

Harald Nägeli Graffiti
Graffiti von Harald Nägeli | Zürich | via Wikimedia

Übersetzungen zwischen Einst und Jetzt haben mich immer schon interessiert, neulich dachte ich über kleine Mutationen nach, als ich las, dass sexistische Plakate erst vom Bezirksamt Kreuzberg und dann in der ganzen Stadt verboten werden sollen. Mich erinnert es an Frauen, die Werbung mit mehr und weniger nackten Frauen übermalt und abgerissen haben. Ein Protest, der jetzt mit Hilfe von Männern in Anzügen durchgesetzt wird. Wenn ich die – nicht immer kunstvoll – beschmierten Häuserwände sehe, denke ich gerne an Harald Nägeli, der in den späten 70er Jahren in Zürich mit ersten Graffiti berüchtigt wurde. Er wurde per Haftbefehl gesucht, floh aus seiner demokratischen Heimat, seine Zeichnungen wurden entfernt und er in Abwesenheit zu Gefängnis und hoher Geldstrafe verurteilt. Später wurde er Professor und eines der wenigen überlebenden Graffitis wurde in Zürich sogar restauriert.

Ach, und die vielen Feste und Märkte, Sportveranstaltungen und Demos, für die Straßen gesperrt werden – ist doch vielleicht auch eine Spätwirkung von seinerzeit strafbarer Nutzung von absolut für Autos vorbehaltenen Orten, die wir in den 1960er Jahren durchgesetzt haben. Ich erinnere mich allerdings auch an unsere lebendigen Diskussionen, die oft in Küchen stattgefunden haben, und schalte ab, wenn von Podien herab diskutiert oder in TV-Studios hinunter auf das fernsehende Volk geredet wird, immer nach dem Gebot, so einfach wie möglich, damit es, wie neulich wieder ein Kollege sagte, auch die Großmutter versteht. (Obwohl doch die Großmütter von heute oft ziemlich klug sind).

Und bislang nicht hergestellt wird die Verbindung zwischen Einst und Heute, wenn von unseren flüchtlingsfeindlichen Nachbarn die Rede ist. Da denke ich an das Jahr 1956, als Tausende, Abertausende, vielleicht sogar Millionen Ungarn in den Westen strömten und weitgehend freundlich aufgenommen wurden, obwohl man ihre Sprache bei bestem Willen nicht verstehen konnte. Ob Herr Orban manchmal daran denkt?

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