Alle zehn Jahre wieder sind Medien und Organisatoren von Kultur & Politik mit 1968 beschäftigt. Da ich vor zehn Jahren noch nicht gebloggt habe, nutze ich die Gelegenheit zu überlegen, was mir in den Rückblicken fehlt. Was jeweils herausgegriffen wird, unterliegt dem Zeitgeist. Dieses Jahr steht der freie oder pseudofreie Sex im Vordergrund, um die Erinnerungsartikel mit #metoo aufzuputzen. Wenn ich die Resumées und Rezensionen neu erschienener Bücher zum Thema »68« lese, habe ich oft den Eindruck, ich hätte auf einem anderen Stern gelebt, zumindest waren mir andere Dinge wichtig, aber das ist wohl immer so, wenn Historiker und Zeitzeugen aufeinander treffen.
Vorhin habe ich in meinem Stammcafé sechs Rezensionen neuer Bücher gelesen, und stellte mal wieder fest, dass mir einiges zu kurz kommt. Nirgends steht, wie das gewaltige Wohnungsproblem dazu führte, dass Wohngemeinschaften gegründet wurden. Und weil es keine, zu wenige oder nur autoritäre Kindergärten gab, taten sich Eltern zusammen und gründeten die selbstorganisierten Kinderläden. Auch erinnere ich mich gerne an die Szene, in der ein Mann, der Kochdienst hatte, sagte »Ich kann das nicht«, und eine Mitbewohnerin antwortete »Probier’s halt«.
Meines Erachtens wird in den Reminiszenzen zu wenig überliefert, dass sich Aufmüpfende aller Altersgruppen und Schichten auf vielen Gebieten uns zusammentaten, um Probleme zu lösen, dass man gelernt hat, den Mund aufzumachen, und wenn man sich alleine nicht getraut hat, sich mit anderen absprach. Im Seminar nachfragen, was der Dozent meint, zugeben, dass man etwas nicht verstanden hat. Kürzlich unterhielt ich mich mit einer jungen, allein in ihrem Kämmerchen arbeitenden Freelancerin, die Angst hat, ihre Aufträge nicht zu kriegen, wenn sie mehr Geld oder bessere Bedingungen verlangt.
Da dachte ich, man sollte mehr erzählen von all den Zusammenschlüssen: freie Lektorinnen, die kleine Zahl weiblicher Filmerinnen, Journalisten, Rechtsanwälte, Ärzte, Hilfskräfte an den Unis, Kindergärtnerinnen… sie alle haben aufgehört, allein und gegen einander zu kämpfen, haben Vereine und Netzwerke gegründet. Gegen den damaligen Mainstream wurden linke Verlage und kritische Zeitungen gegründet, Bücher aus den 1920er Jahren oder dem Exil, die nicht auf dem Markt waren, nachgedruckt. Und weil die Franfurter Buchmesse zu teuer war, wurden diese Bücher (noch bis 1984) auf einer Gegenmesse angeboten und in Kneipen verkauft.
Im Unterschied zur gegenwärtigen Verzagtheit lag Lust am Probieren in der Luft.
Ich will hier keine weiteren romantische Rückblicke befördern, würde allerdings gerne die Einzelkämpfer, vor allem -innen von heute anstupsen. »Nudge« wie das zeitgemäß heißt. Die Verhältnisse sind jetzt gewiss ganz andere, trotzdem: Ich verstehe einfach nicht, dass die Jungen sich die miesen Arbeitsbedingungen, Zeitverträge und Praktika-Unkultur oder auch unbezahlbaren Mieten gefallen lassen.
Mir fällt ein Gespräch mit einer befreundeten Alt-68erin ein, sie stellte ein Buch vor, ich und andere kamen nicht mehr in den Saal, weil der voll war. Hinterher meinte sie: »In den 60er Jahren hätten wir den Saal gestürmt, aber das macht man heute nicht mehr.« Ich zehre bis heute davon, dass wir unglaublich viel gelesen haben, und: Wir haben darüber diskutiert, gestritten, einander zugehört. Am Mensatisch, nachts in den Kneipen oder im Sommer am Schlachtensee.
Heute ist das Wort »hinterfragen« ein running gag unter Apo-Omas. Fragen und nachfragen gehörte stets dazu – jedenfalls bevor dann diese autoritären Parteien gegründet wurden, mit denen die antiautoritären Experimente vorbei waren und einer meiner Freunde von der katholischen zur neu gegründeten kommunistischen Glaubensgemeinschaft wechselte. Ihm blieb das K. Jedesmal wenn nach neuen Gesetzen zum Schutze von diesem und jenem gerufen wird, denke ich daran, dass wir nicht auf die Idee kamen zu warten, bis irgendeine Institution oder Partei die Probleme löst.
Notgedrungen haben wir überlegt, was man machen könnte, gemeinsam und manchmal auch allein. So kamen die Frauenhäuser, Literaturhäuser, Hinterhofgalerien, Off-Bühnen, Alternativschulen, Schwulen-Organisationen, Kollektive aller Art oder Praxisgemeinschaften zustande… die sich später oft in andere Richtungen entwickelten, als wir geträumt hatten. Im Unterschied zur gegenwärtigen Verzagtheit lag Lust am Probieren in der Luft. Von der Roten Zelle Germanistik (ROZGerm) über die (informelle) Rote Zelle Bayerischer Rundfunk bis in (auch katholische) Kirchen. Auch in Heimen für, wie das damals hieß, Fürsorgezöglinge und in Klinik-Abteilungen für »Irre« verbreitete sich der Virus, von den USA über Japan bis in die ČSSR, von der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA bis zu den Maoris in Neuseeland.
Neulich habe ich versucht, meinem Sohn zu erklären, was außerparlamentarische Opposition damals bedeutet hat. Und zerbreche mir den Kopf, wie sich diese Impulse in eine Zeit übersetzen ließen, in der jedes und jeder vernetzt, die »außerparlamentarische Opposition« reaktionär ist, und die neuen Nationalen angeblich »unsere Methoden« kopieren.
Fotos: Lando Jansone
Danke fürs wieder Aufrufen in der Erinnerung! Ja, frau war auch rotzfrech, ein „haben wir immer so gemacht“ oder „das hat es noch nie gegeben“ habe ich einfach nicht mehr akzeptiert. Ich wollte einfach leben, nachdem man mich achtzehn Jahre klein gehalten hat, und zwar so, wie ich es Erwachsen fand. Ich wundere mich immer nur, wenn die um einiges jüngere Freundin keine Koalitionspartner mehr am Arbeitsplatz findet, um Missstände abzustellen, und uns Omas vermisst.
LG