Wer in der Kinderbuchwelt nach starken Frauen*, behinderten Held*innen und anderen Persönlichkeiten jenseits der überkommenen Geschlechter- und Rollenstereotype sucht, muss eine hohe Frustrationstoleranz besitzen – oder jede Menge Beißhölzer. Das dort vermittelte Menschenbild ist ungefähr so fortschrittlich wie das Frauenbild deutscher Magazine {schon Mädchen* mit kurzen Haaren sind eine Rarität}.
Studierende des Fachbereichs »Differenz und Gleichheit« der Alice Salomon Hochschule Berlin haben ganze 33 geschlechtssensible Kinderbücher gefunden; bei PINKSTINKS findet man ein paar mehr und trotzdem nicht genug. Im Vergleich: Pro Jahr werden bis zu 9.000 neue Kinder- und Jugendbücher auf den Markt gebracht {Quelle: Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V.}.
Doch es gibt Grund zur Hoffnung, meint Carla Heher. Die studierte Grundschullehrerin betreibt gemeinsam mit zwei Mitstreiter*innen und ein paar Unterbrechungen seit fünf Jahren den Kinderbuchkritikblog Buuu.ch. Ihr Ziel: Gute Kinderbücher finden. Ihr Vorgehen: Bücher suchen, in denen mindestens zwei Frauen* bzw. Mädchen* mit Namen vor- und zu Wort kommen und sich dabei nicht allein auf Männer* bzw. Jungen* beziehen. Man möchte meinen, dass sei ein Leichtes. Doch weit gefehlt. Erst in den letzten Jahren habe sich, so Carla, auch bei den größeren Verlage ein gewisses Bewusstsein für Geschlechtergerechtigkeit und Diversität entwickelt.
Welche Themen die Kinderbuchwelt dominieren, warum Bücher für Kleine {und Große} so wichtig sind und welche empfehlenswert sind – darum geht es unter anderem im heutigen Interview, für das ich dir, liebe Carla, herzlich danke und mit dem ich allen einen schönen Reformationstag und einen guten Start in die neue Woche wünsche.
Was macht ein gutes Kinderbuch für dich aus?
Ein gutes Kinderbuch ist witzig, spannend und/oder interessant. Im Idealfall vermittelt es progressive und vielfältige Rollenbilder, reproduziert keine Stereotypen und Klischees und schließt keine marginalisierten Charaktere oder Lebensrealitäten aus, zum Beispiel behinderte Kinder oder Kinder of Color. Und wenn es dann auch noch schön illustriert ist, ist es perfekt!
Meinem Kind sind die Zeichnungen auch total wichtig, aber wir haben recht unterschiedliche Vorstellungen von Ästhetik, da muss ich manchmal Kompromisse eingehen. Ein Kinderbuch ist vor allem dann gut, wenn es meine Kinder immer wieder vorgelesen bekommen wollen.
{Wie} Können Bücher die Welt verändern?
Ein Buch kann vielleicht nicht die ganze Welt verändern, aber die Welt der Menschen, die es lesen. Es erweitert Horizonte und schafft neue Blickwinkel und Perspektiven. Sprache, auch geschriebene und Bildsprache, prägt unser Bewusstsein und unsere Wirklichkeit.
Wie steht es um die Gleichberechtigung und Geschlechtergleichheit in der Kinderbuchwelt?
Die Autorinnen von »Good Night Stories for Rebel Girls« haben im Rahmen ihrer Crowdfundingkampagne für ihr Buch ein entlarvendes Video namens »The Ugly Truth of Children’s Books« produziert, das auch viral ging. Darin machten eine Mutter und eine Tochter ein Experiment: Sie nahmen die laut Times Magazin »100 besten Kinderbücher aller Zeiten« genauer unter die Lupe: Zuerst sortieren sie alle Bücher, in denen keine Frauen vorkommen aus. Danach entfernen sie alle Bücher, in denen Frauen nicht sprechen und dann noch alle Prinzessinnengeschichten. Übrig bleiben sehr, sehr wenige.
Wir von buuu.ch haben uns damals ein Instrument überlegt, mit dem man schauen kann, welche Rollenbilder ein Buch vermittelt und sind auf den Bechdel-Test gestoßen: Der war ursprünglich für Filme gedacht war und stellt vier Fragen an das Werk:
- Kommen mindestens zwei weibliche Figuren vor?
- Haben sie einen Namen?
- Sprechen sie miteinander?
- Wenn ja, sprechen sie über etwas anderes als über einen Mann?
Sich Bücher nach diesen Kriterien anzuschauen ist ähnlich ernüchternd, wie das Experiment der Autorinnen der »Good Night Stories«. Vor allem geht es ja dabei um ein rein formales Kriterium und es ist noch lange nicht gesagt, dass eines der wenigen Bücher, die 4 von 4 Punkte des Bechdel-Tests erreichen, auch gut ist.
Erfreulich ist aber, dass sich in den letzten Jahren einiges getan hat und ein gewisses Bewusstsein für Geschlechtergerechtigkeit und Diversität durchaus auch quer durch die größeren Verlage Einzug gehalten hat.
Welche Themen dominieren in der Kinderbuchwelt? Welche Themen sind unterbelichtet?
Für kleinere Kinder gibt es viel zu viele problematisierende Kinderbücher, die überhaupt keine gute Geschichte erzählen, sondern nur belehrend sind. Da geht es um Themen wie aufs Töpfchen gehen, Eifersucht oder »Bitte« und »Danke« sagen. Viele dieser Bücher sind ziemlich plump, ohne durchdachte Geschichte. Ich stelle mir vor, dass Eltern gezielt so ein Buch kaufen und ihrem Kind vorlesen und hoffen, dass damit das Problem ausreichend bearbeitet wird. Im besten Fall kommen sie dadurch immerhin ins Gespräch mit dem Kind, aber ich bezweifle, dass die Lektüre der wie am Fließband produzierten Werke allein zu einem Reflexionsprozess animiert.
Ich bin ein großer Fan von Sachbüchern, finde aber, dass in dem Bereich noch einiges geht. Die Idee hinter »Was ist Was«, »Wieso, weshalb, warum?« und wie diese Reihen alle heissen, ist ziemlich gut: Kindgerecht aufbereitete und verständliche Sachinformationen. Es gibt sie schon zu vielen spannenden Themen. Aber warum gibt es Sachbücher zu Weltreligionen für Kinder ab 4, aber keines zu Politik? Ein »Wieso, weshalb, warum?« über Gleichberechtigung und Feminismus würd ich gerne mal selber schreiben, am liebsten mit vielen Klappelementen. Klappen und andere interaktive Details sind super! 😀
Ab einer gewissen Altersstufe, so etwa ab dem Erstleser_innenalter, werden Bücher sehr streng gegendert, es gibt Geschichten für Buben und Geschichten für Mädchen, die auch als solche ausgewiesen sind.
Auch wenn viele Marketingmenschen behaupten, dass Gendermarketing keine Stereotype verstärkt: Öhm, was sonst? Es braucht definitiv mehr Geschichten für alle!
Welche Bücher empfehlt ihr mir für meine neunjährige Tochter, für die das Thema Rollenbilder und Geschlechterklischees zunehmend virulenter wird?
Den Tipp hab ich aus der feministischen Wiener Buchhandlung chicklit: »Tommi Mütze«. Es geht um ein Kind, dass neu in die Klasse kommt und sein ganzes Gesicht hinter einer Sturmmütze versteckt. Das Kind macht alles, was die Buben machen und wird deswegen für einen gehalten. Es ist ein liebes Plädoyer für Vielfalt und Akzeptanz und gleichzeitig ist die Geschichte gut und witzig.
Ein bisschen später dann wäre »Ene Mene Missy« empfehlenswert. Ein 1A durchdachtes und niederschwelliges Sachbuch zum Thema Geschlechterrollen, Gleichberechtigung und natürlich in weiterer Folge Feminismus.
Welche Kinder- und Jugendbücher stehen warum auf eurer Top-Ten-Liste 2017?
- Auf jeden Fall die »Good Night Stories for Rebel Girls«, auch wenn ich daran schon einiges zu kritisieren habe und die uneingeschränkte Begeisterung von allen Seiten nicht teilen kann. Ich glaube aber, das Buch und die Publicity rundherum läuten schon eine neue Ära in der Kinderbuchwelt ein. Im Moment schießen gerade Bilderbuchbiographien von historisch relevanten Frauen aus dem Boden, wenn der Trend mal vorüber ist, dann können hoffentlich auch mehr »normale« Protagonistinnen in der Kinderliteratur Fuß fassen. Ich glaube fest daran, dass die»Good Night Stories« den Weg dafür ebnen und das Bewusstsein dafür schaffen, dass es so etwas braucht.
- Total begeistert war bin von »Ich bin jetzt… glücklich, wütend, stark«, ein Pappbilderbuch, in dem es um es um Kinder ihre ganz individuellen Eigenschaften, um unterschiedliche Situationen und vor allem um Gefühle geht. Es eignet sich schon für ganz Kleine und es ist schön zu sehen, dass Diverstität und die Dekonstruktion von Geschlechterstereotypen auch in den größeren Verlagen eine Rolle spielen. Das ist eine ganz neue Entwicklung. Vor vier Jahren, als meine Tochter in dem Alter war, gab es am deutschsprachigen Kinderbuchmarkt sowas gar nicht.
- »Pau und die Wut« hat mich sehr überrascht, weil die Hauptfigur geschlechtsneutral ist und das Buch ohne Pronomen auskommt. Die Tatsache steht aber überhaupt nicht im Mittelpunkt weil es eigentlich um ein ganz anderes Thema geht: Das Gefühl der Wut. Am Ende gibt es Ausfüllseiten, die jedes Kind für sich ausfüllen kann und die zur Reflexion anregen.
- »Alles Rosa« ist ein bisschen wie »Die Töchter Egalias« für Kinder. In dem lieben und wirklich hübsch illustriertes Büchlein geht es um die Dekonstruktion von Genderideologien. Eigentlich spielt es nur mit der simplen Umkehrung von gängigen Praktiken, aber genau das ist ein adäquates und bewährtes Mittel, um Kinder zu irritieren und ihnen die Absurdität des ganzen Genderzirkuses näher zu bringen.
- »Vor den sieben Bergen« ist eine coole Neuinterpretation/Fortsetzung von dem ollen Schneewittchen-Märchen und großartig illustriert. Ich bin ein großer Fan von Mareike Engelke. In dem Buch befindet sich das wohl coolste Portrait einer Mutter seit langem!
- Supergerne mag ich die grafischen Illustrationen von David Ryski. Im Buch »Wenn ich mal groß bin, werde ich…« portraitiert er Berufe seine Freund_innen und Familienmitglieder. Er kennt echt viele verschiedene Leute mit vielfältigen Lohnarbeiten. Zu entdecken gibt es unter anderem eine Tätowiererin, einen Altenpfleger, einen Feuerwehrmann und eine Zimmermeisterin.
- Leider nur auf Englisch, aber ganz leicht übersetzbar ist das Sachbuch über Identitäten »Who are you«, es zeigt, wie man ein vermeintlich »schwieriges« Thema auch echt gut kindgerecht »herunterbrechen« kann.
- Auch ein witziges und informatives Sachbuch zu einem originellen Thema ist »Aufräumen für Anfänger« {leider halt nicht für Anfängerinnen…}.
- Das oben schon erwähnte »Ene Mene Missy« darf in der Liste nicht fehlen. Empfohlen ist es ab 14 Jahren, aber ich denke, dass es schon ein bisschen früher geht.
- Mein persönliches Highlight 2017 ist das Buch »Der geheimnisvolle Koffer von Herrn Benjamin«. Es basiert auf einer wahren Begebenheit. Auch wenn es in der Geschichte vordergründig um den recht schrulligen Walter Benjamin und das Mysterium seines Koffer geht: Das Werk ist vor allem eine Hommage an die Fluchthelferin Lisa Fittko und ein liebevolles und starkes Plädoyer für Solidarität und Fluchthilfe. Gerade in einer Zeit, in der Fluchthilfe kriminalisiert wird und keine Lobby hat, ist es wichtig, sich in Erinnerung zu rufen und weiterzuvermitteln, dass Menschen, die vor Krieg, Gewalt und Angst fliehen, auf Helfer_innen angewiesen sind, um sich in Sicherheit zu bringen – zumindest, so lange es keine legalen Fluchtrouten gibt.
Welches Kinderbuch hat euch in diesem Jahr warum aus der Fassung gebracht?
Ein typischer Fall von »Das Gegenteil von gut ist gut gemeint« ist das Buch »Puppen sind doch nichts für Jungen«. Nach dem ich das Ende gelesen habe, dachte ich nur: Ernsthaft? Das wars jetzt?
Es geht es um krass manipulative Eltern und ein Kind, das ihnen total ausgeliefert ist. Eine positive Perspektive ist nicht in Sicht. Das Buch ist zynisch und nicht gerade ermutigend für Buben, die Puppen mögen.
Wer steckt hinter Buuu.ch?
Hinter buuu.ch stecken Menschen aus Österreich und Deutschland. Gegründet wurde der Blog, weil wir eine Plattform schaffen wollten, auf der wir empfehlenswerte Kinderbücher vorstellen, aber auch, weil wir ein Ventil brauchten, um unseren Ärger über so manches Werk loszuwerden. Interessiert ja im Alltag nicht so viele Leute… 😉
Der Blog lag einige Zeit brach, weil es für alle beteiligten Blogger_innen schwer ist, neben Lohn- und Reproduktionsarbeit und Alltag noch für ein ehrenamtliches Projekt zu arbeiten. Ich hatte dieses Jahr, nach Abschluss meines Studiums und als vorübergehende »Stay/Work At Home Mum«, ein bisschen Zeit übrig und einen großen Motivationsschub und will gemeinsam mit einem erweiterten Team an Autor_innen durchstarten, denn in den letzten Jahren sind keine vergleichbaren Projekte nachgekommen. Der Bedarf nach so einer Plattform ist aber immer noch da, wenn nicht sogar größer geworden.
Zu mir: Ich lebe in Wien, bin Feministin und Mutter {meine Kinder sind 1 und 6} und neuerdings auch Primarstufenpädagogin.
Fotos: Sophie Nawrati
Jaaa! Bitte schreib ein ‚Wieso weshalb warum‘ zu Gleichberechtigung und Feminismus, liebe Carla! Ich kaufe es sofort! Vielen Dank auch für die vielen anderen, wunderbaren Buch-Tipps!
Ich empfinde Kinder-Bücher auch oft als ungeheuer frustrierend in ihrer eindimensionalen Weltsicht und wie mit Geschlechterrollen umgegangen wird – und bin permanent auf der Suche nach neuem Lese-Futter für meinen Sohn, 4. Denn ich finde es so entscheidend, dass er mit einer Vielzahl von Rollen- und Geschlechterbildern in Berührung kommt und Geschichten hört, in denen auch Frauen-Figuren sprechen und was zu sagen haben.
Springe gleich rüber zu buuu.ch und werde es in meine Lese-Liste aufnehmen. 🙂
Danke Dir, liebe Indre, wie immer für das Aufspüren von interessanten Themen und für ein weiteres inspirierendes Interview!