2008 kam die Künstlerin Annton Beate Schmidt aus Neuseeland nach Berlin zurück und eröffnete in einem alten Ladengeschäft in der Sanderstraße in Berlin-Neukölln ihr Atelier. Hier lebt und arbeitet die ehemalige Cutterin seither mit ihrem Mann, dem Profikoch Thomas C. Bräuhäuser, und ihrer Assistentin, der Hündin Emma.
Gemeinsam veranstaltet das Paar offene Tischgesellschaften und lädt zum Gespräch. Doch seit diesem Sommer ist das Atelier noch mehr als Wohnung, Studio und Salon. Es ist außerdem Herberge für Menschen auf der Flucht.
Ich habe mit Annton über ihr Engagement, ihre Erlebnisse und Erfahrungen, ihre Wünsche und Hoffnungen gesprochen. Vielen Dank, liebe Annton, für diese Einblicke, mit denen ich allen einen guten Start in die neue Woche wünsche.
Liebe Annton, magst du mir ein wenig von dir erzählen? Wer bist du? Was machst du? Wie und wo lebst du?
Ich arbeite als bildende Künstlerin und lebe seit gut sieben Jahren mit Mann und Hund in einem alten Ladengeschäft in Berlin Neukölln. Darüber hinaus mische ich mich als Rednerin ab und zu gerne in Politisches ein, bin Verfasserin der Tiny Fishbowl Collectionund betreibe mit dem Gatten einmal im Monat (momentan sind unsere Routinen leider ein bisschen aus dem Ruder geraten) den Speak Easy Club. Einen kleinen, aber feinen Supperclub, der im Atelier stattfindet und der uns viel Freude bereitet.
Du schriebst, dass was du seit August alles erleben durftest, wirklich am Herzen liegst. Was hast du erlebt?
Es gibt so viele Geschichten, dass ich gar nicht genau weiß, wo ich anfangen soll. Mein Mann und ich versuchen auf verschiedenen Ebenen zu helfen. Ich habe ich mich speziell um geflüchtete Menschen mit Behinderungen gekümmert. Weil ich selbst mit Krücken oder im Rollstuhl durchs Leben gehe, hatte ich den Eindruck, in diesem Bereich am meisten tun zu können.
Wir stehen außerdem auf einer Liste für Menschen, die nachts ein Bett, eine heiße Dusche oder etwas zu Essen benötigen. Das bedeutet: Das Telefon klingelt und mitten in der Nacht werden Übernachtungsgäste gebracht. Manche bleiben dann nur diese eine Nacht, andere bleiben eine Woche bei uns sind, bis wir mit der Unterstützung vieler anderer Freiwilliger eine ordentliche Dauerunterkunft für sie gefunden haben.
Geflüchteten Menschen zu helfen ist ein bisschen wie Achterbahn fahren: In der einen Sekunde könnte man vor Freude einen kleinen Luftsprung machen, weil man es geschafft hat einen Rollstuhl oder sogar eine Wohnung zu organisieren, weil man überraschend Hilfe von anderen, unglaublich tollen Menschen bekommen hat. Und dann – nur einen kurzen Moment später – bekommt man die Nachricht, dass das Amt einen Härtefall nicht angenommen hat, dass jemand mit einer frischen Kriegswunde erst einmal wieder auf der Straße landet oder dass – vollkommen unbegreiflich – ein Geschwisterpaar getrennt werden soll.
Aus irgendwelchen bürokratischen Gründen. Das sind die Momente, in denen ich schreien könnte. Weil so viel einfach nicht nachvollziehbar ist. Und schließlich gibt es da die Augenblicke, in denen man kurz sprachlos ist und sich zwingt nicht loszuheulen. Man sitzt vielleicht nichtsahnend mit seinen Gästen am Küchentisch beim Abendessen: „Kannst du die Melone bitte schneiden. Seit ich gefoltert wurde, kann ich die rechte Schulter nicht mehr belasten.“ Der Satz bleibt im Raum hängen bis jemand aus der Runde etwas Banales von sich gibt oder einen doofen Witz macht und sich die Situation irgendwie auflöst. Oder aber man eben einfach losheult.
Gab und gibt es Situationen und Begegnungen mit geflüchteten Menschen, die dich an deine Grenzen gebracht haben?
Eine Begegnung hat mich wirklich für ein paar Tage aus der Bahn geworfen. Wieder einmal mitten in der Nacht bekamen wir einen Anruf, ob wir einen jungen Mann bei aus aufnehmen könnten. Wir hatten bereits einen Gast, der glücklicherweise nicht nur Arabisch, sondern auch fließend Englisch sprach, und der sich anbot mit mir zusammen wach zu bleiben. Also sagte ich zu.
Ein halbe Stunde später klopfte es und ein Helfer stand vor der Tür, neben ihm ein zitternder, vollkommen verängstigter junger Mann. Ein sehr junger Mann. Er konnte mir kaum in die Augen sehen, als er mir die Hand gab. Der Rücken gebeugt. Ich spürte sofort, ihm musste etwas Furchtbares passiert sein. Er sagte, er habe solche Schmerzen und könne sich nicht setzen. Ob er duschen dürfe? Er verschwand für zwei Stunden unter der Dusche. Danach kletterte er schweigend auf die für ihn vorbereitete Schlafcouch und als ich das Licht löschen wollte, schüttelte er nur ängstlich den Kopf.
Wir haben auch am nächsten Morgen kaum Worte gewechselt. Der junge Mann erzählte unserem zweiten Gast lediglich, dass er die vergangenen Nächte im Park geschlafen hatte. Und er gab mir eine Schachtel arabischer Süßigkeiten, die er von einem Fremden geschenkt bekommen hatte. Mir zog es das Herz zusammen. Nachdem beide Gäste schließlich in Richtung Lageso aufgebrochen waren, rief ich die Helfer Vorort an und informierte sie, dass gleich ein junger Mann zu ihnen gebracht werden würde und dass ich mir großen Sorgen um ihn mache. Unser zweiter Gast lieferte ihn zwar dort ab, aber danach verschwand der junge Mann. Wir haben ihn nie wieder gesehen.
Nach der Soforthilfe kommt das Zusammenleben. Wie kann das deiner Meinung nach gelingen?
Das Wichtigste, und dass wird ja bereits von allen Seiten immer wieder betont, wird die sprachliche Integration unserer neuen Nachbarn sein. Ich halte das für eine absolute Priorität und kann zumindest für den Berliner Raum sagen, es gibt hier tatsächlich eine Vielzahl an ehrenamtlichen und staatlichen Angeboten.
Für alle anderen Bereiche gilt wie überall im Zusammenleben: Offenheit und miteinander reden. Viele der so oft betonten Unterschiede zwischen den Kulturen sind weitaus weniger gravierend als gemeinhin vermutet.
Über das „Andere“ muss eben diskutiert oder auch mal gestritten werden. Ein Bekannter von mir wurde zum Beispiel von seiner afghanischen Gastfamilie bekocht. Als sie ihn zum Essen riefen, waren zwei Tische gedeckt: einer für die Männer, einer für die Frauen. Er hat daraufhin klar gemacht, dass das bei ihm so nicht laufe und die Tische einfach zusammengeschoben. „So, jetzt Essen wir in Deutschland afghanischem Reis.“ Schließlich haben alle gelacht und das Problem war sprichwörtlich vom Tisch.
Humor und etwas mehr Leichtigkeit sind für mich der Schlüssel für ein gutes Zusammenleben. Lacht miteinander!
Annton Beate Schmidt
Wo siehst du die größten Herausforderungen für das Zusammenleben – im Kleinen und Alltäglichen und im Großen und Ganzen?
Der Begriff Herausforderung gefällt mir in diesem Zusammenhang ehrlich gesagt nicht besonders. Ich sehe eher Chancen. Chancen unsere Gesellschaft offener und sozialer zu machen. Vielleicht auch eine Spur ehrlicher.
Ich sehe so viele Freiwillige, die sich unglaublich engagieren, die ihre Ärmel hochkrempeln und tolle Ideen entwickeln. Menschen, die sich bisher vielleicht noch nie getraut haben aufzustehen oder die nicht wussten, wo sie soziales Engagement zeigen können, sind plötzlich mutig und ganz vorne mit dabei, wenn es darum geht Respekt und Menschlichkeit zu zeigen. Das beeindruckt mich zutiefst und gibt mir Hoffnung.
Natürlich sehe und höre ich auch die anderen Stimmen. Menschen die jetzt wütend auf die Straße rennen und laut schreien, Politiker die mit Ressentiments und Vorurteilen jonglieren, nur um ihre ganz eigenen Interessen durchzusetzen oder auch – und das ist noch viel weniger zu ertragen – Menschen die tatsächlich glauben, es sei ihr Recht andere anzugreifen, zu bedrohen oder zu verletzten. An manchen Tagen beim Zeitung lesen oder Nachrichten schauen, habe ich das Gefühl es nicht mehr aushalten zu können.
Aber ehrlich gesagt, ich glaube diese Dinge waren schon immer da. Unterschwellig und etwas weniger dreist vorgetragen. Jetzt werden sie wenigstens sichtbar. Und offene Wunden lassen sich aus meiner Sicht viel besser behandeln, als solche die unter Binden und Trostpflastern versteckt sind. Irgendwo habe ich heute den Satz gelesen: „Egal war gestern.“ Das trifft es ziemlich genau.
Deutschland hat einen Hang dazu, jegliche Unwägbarkeit im Vorfeld erfassen und bedenken zu wollen. Für den Fall, dass dieses oder jenes eintrifft, was werden wir dann tun? Natürlich ist es sinnvoll, frühzeitig Strategien zu entwickeln, aber oftmals wäre es viel effektiver, einfach mal zu machen.
Kennst du Beispiele, von denen wir lernen können?
Berlin ist randvoll mit guten Beispielen: Es entstehen Sportmannschaften für Geflüchtete oder Fahrradwerkstätten, in denen nicht nur repariert, sondern auch ein eigenes Fahrrad zusammengebaut werden kann. Es gibt Patenschaften, Sprachkurse oder die Möglichkeit zusammen mit Geflüchteten zu kochen. Begegnung auf allen Ebenen sozusagen.
Mir persönlich liegt der Verein Be An Angel sehr am Herzen. Seine beiden Gründer gehören zu den vielen Menschen, die ich in den vergangenen Wochen kennen und sehr schätzen gelernt habe. Der Verein hat es sich nicht nur zu Aufgabe gemacht schnell und effektiv zu helfen, sondern vor allem auch unterschiedliche Hilfen, Personen und Projekte zu verknüpfen. Wer sich also selbst zukünftig engagieren will, findet dort mit Sicherheit die richtigen Ansprechpartner.
Und die Kunst? Was können wir von ihr lernen?
Für die Kunst, die auf Geschehnisse in der Regel ja eher reagiert und Fragen stellt, braucht es, denke ich, noch eine Weile. Es gibt ein paar Gruppen und einzelne Künstler, wie das Zentrum für politische Schönheit, die sich dem Thema Flucht bereits annehmen. Für meine eigene Arbeit, deren zentrales Thema Identität ist, entwickeln sich zurzeit Ideen und Projekte.
Wie geht Neuseeland mit dem Thema Einwanderung um?
Du fragst nach Neuseeland, vermutlich weil ich dort einige Jahre gelebt habe. Die Situation dort stellt sich sehr unterschiedlich zu der in Deutschland dar. Zum einem ist Neuseeland ein klassisches Einwanderungsland und durch die Maori bzw. Menschen aus dem pazifischen Raum schon lange darin geübt, verschiedene Kulturen relativ gut miteinander zu verknüpfen.
Neuankömmlinge werden freundlich begrüßt; sie erhalten sämtliche Unterlagen des Immigration Offices – ganz anders als hier – in ihrer jeweiligen Sprache. Doch dann machen sie auch sehr schnell klar: „Wenn du kein Englisch lernst, bist du raus.“ Das finde ich sehr richtig! Auf der anderen Seite besteht Neuseeland aus zwei Inseln am anderen Ende der Welt. Dass Menschen in Booten an deren Stränden auftauchen oder zu Fuß seine Grenzen überqueren, passiert einfach nicht.
Welche Überschrift willst du am 23. Oktober 2016 in deiner Zeitung des Vertrauens zum Thema „Menschen auf der Flucht“ lesen?
„Herzlich willkommen. Zwei weitere Flugzeuge mit geflüchteten Menschen sicher in Berlin gelandet.“ Die momentanen Konflikte wie etwa in Syrien werden bis dahin leider nicht gelöst sein, aber ich wünsche mir, dass Menschen die ihre Heimat verlassen müssen, dies wenigstens sicher und in Würde tun können.
Alle Bilder (c) Annton Beate Schmidt
Toll!
ach wie gut.
Sehr beeindruckend!