Ein Blick hinter Große Köpfe

23. März 2015
Das allmähliche Verschwinden der freien Sicht.

Wenn wir wollten, könnten wir bald ein Dosentelefon über die Straße legen und die hier begonnene Unterhaltung von Balkon zu Balkon fortsetzen. Denn in wenigen Wochen ist es soweit: M i MA und die Großen Köpfe werden Nachbarn. Der Zufall wollte es, dass ‚unser‘ Neubau direkt vor ihre Nase ge- und ihr schöner Silvester- durch einen ‚Silberblick‘ ersetzt wurde. Er wollte außerdem, dass wir uns vorher schon begegnen. Im Leben 3.0. Und das kam so. 

Der Weg von Schöneberg nach Friedrichshain ist weit und ein Baustellenbesuch damit jedes Mal eine kleine Reise. Darum suchten wir nach einer anderen Möglichkeit, den Baufortschritt zu verfolgen und landeten bei Herrn Lichtfix, der das allmähliche Verschwinden seiner freien Sicht fotodokumentierte. Die erste ‚Nahbegegnung‘ fand im Herbst 2013 statt. Ein befreundeter Künstler erzählte uns von seinem jüngsten Projekt und erwähnte beiläufig, dass ihm dabei ein angehender Kunsthistoriker zur Seite stehe. Dass es sich dabei um eben jenen Herr Lichtfix handelte, lag schnell auf der Hand. Wenig später fanden wir dann heraus, dass der ’34jährige verheiratete Vater, der was macht mit Kunst macht‘, einer der vier ‚Großen Köpfe‚ ist. 
Der Rest ist schnell erzählt: Wir begannen von- und übereinander zu lesen, kommentierten hier und dort und landeten schließlich beim heutigen Montagsinterview. Darin geht es ums frühe Kinderkriegen, die Unvereinbarkeit von Beruf und Familie und die Frage, wie der radikale Wandel eines Kiezes durch die Augen seiner Bewohner/innen aussieht. 
Habt vielen lieben Dank, Anne und Konstantin, fürs Antworten und Einblickgeben und Horizonterweitern. Daran dass andere durch unsere Wohnung Risse in der Wand haben könnten, habe ich bisher nicht gedacht. Ebensowenig wie ich mir vorstellen konnte, wie monatelange Bauarbeiten den Alltag dominieren. Ich hoffe sehr, dass jetzt – da die Häuser fertig sind und das große Trockenwohnen beginnt – vieles wieder einfacher und manches sogar besser wird. In diesem Sinne in einen guten Start in die letzte Märzwoche.

Wer sind die „Großen Köpfe“?
Alu: Die großen Köpfe sind Anne-Luise und Konstantin. Zwei geborene Berliner die sich 2005 im Internet verliebt haben. Nach einem Umzug von Alus Kiez Prenzlauer Berg in den Friedrichshain haben sie 2007 und 2010 noch zwei Berliner mehr in ihre Wohnung aufgenommen (K1 und K2). Der Blog grossekoepfe.de wurde 2012 von Konstantin und unserem Nachbarn Jost gegründet. 2013 kam Alu dazu, seit 2014 ist es der gemeinsame Blog von uns Beiden. Wir sind zwei Geisteswissenschaftler. Ich habe in Potsdam studiert und Konsti an der FU.
K: Anne und Konstantin, 33 und bald 35 aus Berlin. Schon immer dort und vermutlich noch lange hier. Wir schreiben über die Themen Familie, Berlin, Leben mit Kindern, Berliner Stereotype, Bücher und Momente
Ihr seid beide relativ junge Eltern. Erlebt ihr euch damit als Ausnahme?
Alu: Sind wir das? In Anbetracht unserer Herkunft (Ostberliner alle Beide) empfinde ich das nicht so. Da wäre ich mit meinen 25 schon eher das Mittelmaß gewesen. Wir haben uns lange als Ausnahme erlebt, da wir die Ersten im Freundeskreis mit Kind waren, jetzt bin ich sehr froh darüber, denn wir sind jung und können so (gefühlt) Kinder und Karriere besser steuern.
K: Unser Freundeskreis ist groß und international. Einige von Ihnen haben ähnlich jung Kinder bekommen, die anderen hatten bisher dazu oft noch keine Gelegenheit. 
Ich denke oft, wenn ich 40 Jahre alt werde sind die Kinder schon 12 und 9, das finde ich dann durchaus gut. Und noch eines, viele ältere Eltern haben schon ihre Karriere. Wir basteln noch daran. Das sind die Unterschiede. Jedoch gab es bisher wegen der relativ frühen Elternschaft keine Probleme oder Vorurteile – weder aktiv noch passiv.

Alu, du versuchst dich gerade in der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Was machst du beruflich? Und was sind die größten Herausforderungen beim Vereinen?
Alu: Ich arbeite seit 2011 im öffentlichen Dienst und beschäftige mich mit den Themen ‚Veränderung der Arbeitswelt, Zukunft der Arbeit, Selbstständige und Künstler.‘ Das Thema Vereinbarkeit begleitet mich dabei jeden Tag. Niemals kann man es allen Parteien recht machen mit einer Vollzeitstelle und zwei Kindern. Man macht zeitweise immer irgendwo Abstriche. Diese Erkenntnis musste ich leider machen. Als Mutter, die sich eben auch aktiv am Leben der Kinder beteiligen will, fühlt es sich manchmal an, als ob der Tag 36 Stunden, statt 24 Stunden bräuchte. Trotzdem habe ich es mir so ausgesucht.
Worüber schreibst du, Konstantin, ein Buch?
K: Ich promoviere derzeit in Kunstgeschichte. Mein Thema ist der katholische Kirchenbau in der Berliner Region in der 1. Hälfte des 20 Jahrhunderts. Damit die Kinder eine Vorstellung haben, ist es ‚Papa schreibt ein Buch‘ und damit ich weiß wo ich stehe, blogge ich dazu auch: konstantinmanthey.blogspot.de
Ihr wohnt im Samariterkiez in Friedrichshain. In kaum einem anderen Kiez wurden so viele neue Wohnhäuser gebaut wie dort. In diesem Jahr werden mehr als 2.000 neue Kiezbewohner/innen einziehen (darunter auch wir). Wie fühlt sich das an? 
Alu: Es fühlt mal besser und mal schlechter an. Als wir aus unserer alten Wohnung gekündigt wurden wegen Eigenbedarf, war das schon ziemlich doof. Zum Glück haben wir in derselben Straße eine andere Wohnung bekommen. Genau ein Jahr nach Einzug kamen dann die Bagger und haben uns gegenüber begonnen zu bauen. Wir haben seitdem erhebliche Baumängel in der Wohnung (Risse usw.), die dadurch entstanden sind. Die Bauarbeiten gehen Mo-Sa von 7 bis 19 Uhr. Ich begrüße die Veränderungen sehr im Kiez, aber das nervt mich einfach nur. Wir können nie die Fenster zur Straße öffnen wegen dem Baulärm und das neue Haus steht so dicht, dass die Bauarbeiter uns in die Wohnung winken. Vorher konnte ich nackig durch die Wohnung laufen, da war nämlich kein Haus, sondern Freifläche. Ich freue mich aber auch auf neue Kinder und neue Freundschaften im Kiez, gehört ja auch dazu, die Veränderung.
K: Es fühlt sich anders an. Doch wir sind uns klar, das anders gut wird. Bereits 2005 war es schwer, in diesem Kiez bezahlbare Wohnungen zu bekommen. Nun kann man zumindest Wohnungen bekommen. Und die Zuzieher bringen frischen Wind mit. 
Meine Anekdote dazu ist: 2001 musste man, wenn man Früh um sieben Uhr einen Kaffee wollte, eine acht Stunden durchgezogene Brühe im braunen 0,2l-Becher bei der Curry-Wurst-Bude kaufen (für 50Ct). Heute gehe ich in einen Laden und dort steht eine Kaffeemaschine mit Jemandem, der sie bedienen kann. Was raus kommt schmeckt mir besser (für ca. 1€).
Ich bin auch der Meinung, wir Berliner hätten mit ‚arm aber sexy‘ nicht das aus der Stadt gemacht, was sie heute für alle so attraktiv macht. Dennoch: Schnelle Entwicklung birgt immer auch die Gefahr eines schnellen Niedergangs der zarten Pflänzchen. Doch die großen Fehler sehe ich bei der Politik und in ihrem Versagen bei einer Steuerungspflicht im Bereich soziales Wohnen und Bauen. Viele Familien hätten hier auch für 100.000 € weniger eine Wohnung gekauft oder für unter 1.500€ kalt gemietet.

Was macht das mit dem Kiez, in dem ihr seit 2005 lebt? 
Alu: Es wird voller werden, die Alten verschwinden aus dem Kiez. In unserer Stammkneipe (dem Schalander) müssen wir seit neustem reservieren. Es gibt mehr kleine Läden die tolle Dinge verkaufen und es gibt keine wilden Gärten mehr (die waren wirklich schön!). Es gibt aber Kieztreffen, Flohmärkte usw. Die Neu-Friedrichshainer bringen sich ordentlich ein.
K: Dort wo Freiflächen waren, Garagenhöfe oder wilde Gärten stehen nun Häuserblöcke. Die Bauträger bauen und verkaufen und der nächste Investor verkauft weiter. Und schnell kommen die Menschen, die für teures Geld neben 180 anderen Besitzern, nun die Betonpaläste ‚trocken‘ wohnen. Ich hoffe einfach, dass es sich für die neuen Bewohner auch wirklich lohnt!
Was sind eure größten Sorgen angesichts dieses „sozialen Experiments“?
Alu: Das wir uns das nicht mehr leisten können eines Tages. Wir sind beide Geisteswissenschaftler die keinerlei großen Rücklagen haben, ich hoffe wir können mithalten.
K: Wie lange können und wollen wir da mithalten? Menschen, die für 110qm Wohnen im dritten Stock 350.000€ gezahlt haben, wollen auch den Gegenwert für ihr ‚Reihenhaus‘ in der Innenstadt abwohnen. Vielleicht wollen sie Ruhe am Wochenende, doch dann stört der Klub nebenan, dessen Besucher nachts am Wochenende laut sind. Dann stört der Sommerbetrieb, in der sonst so netten Hausbrauerei gegenüber, dann stört der Nachbar, dessen Kind Geige übt und es wächst der Frust, oder es sinkt vielleicht sogar das Angebot.
Das Wohnhaus, in das wir einziehen, wurde direkt vor eurer Nase gebaut. Wie habt ihr das erlebt? Und wie gefällt es euch (ganz ehrlich)?
Alu: Unser Silvesterblick ist nun weg, das ist schade. Werden wir uns wohl Freunde im Haus gegenüber suchen müssen, um den wiederzuhaben. Ich freue mich darauf, wenn es endlich fertig ist und hoffe auf einen Supermarkt unten drin. Mit den Bauarbeiten haben sie zwei Zebrastreifen in der Straße angelegt, beide werden oft von den Autofahrern und Bauarbeitern ignoriert, der Schulweg ist durch das dichte Baufahrzeuge-Aufkommen echt nicht sicher. Das ist doof, denn das steht dem Selbstständigkeitsbestreben von K1 im Wege.
Die S-Bahn ist leiser, das ist super. Die Glasfassade ist der größte Spiegel der Welt (für mich)!
K: Das Bauprojekt Polygongarden ist eines der gestalterisch besseren Projekte. Die Glasfassade spiegelt die Sonne in unsere Wohnung, das ist schön. 
Die Bauarbeiter parken den Fußgängerüberweg zu, den die Kinder als Schulweg nutzen. Viele Autofahrer sehen die Schüler dann zu spät. Die Stahlbetonflechter zählten zu den armen Arbeitsnomaden, deren Lohn die Kaufpreise nicht widerspiegelt. Das gehört auch zum neuen Bauen.
Ich hoffe, dass sich alle Parteien auch verstehen und wissen, was es heißt in Berlin zu leben. Es ist eben keine Stadt im Südwesten. Hier geht es nur bedingt leise und auch nur selten idyllisch zu. Die Grünflächen und Freiflächen werden überfüllter. Doch es wird mehr Geschäfte geben, mehr bürgerschaftliches Engagement, das vielen nützt und für uns weniger S-Bahn-Lärm ;-).
Was wünscht ihr euch für euren – demnächst um über 2.000 Menschen erweiterten – Kiez?
Alu: Mehr Spielplätze, neue tolle Kontakte, viel Toleranz und weniger Baulärm, mehr Input. Dass das K17 bleiben kann, dass die Bilder bleiben und dass es weniger Autobesitzer gibt.
K: Ich wünsche mir viele nette neue Bekanntschaften. Dass der Bezirk auch die vielen neuen Kinder mitgedacht hat und dass die neuen Mitbewohner auch bereit sind, die Vielfalt wegen der sie gerne herkamen zu bewahren und sich dafür einzusetzen. Dazu gehört für mich auch das Nachtpublikum, die linke Szene und das Graffiti an der Hauswand.

Alle Fotos (c) Lichtfix

2 Comments

  • 9 Jahren ago

    So schön, so wahr, so unglaublich tolerant und gar nicht erzürnt, wie man meint, dass man sein könnte, wenn der Wandel im Kiez so viel Ungewissheit und Lärm mitbringt. Ich frei mich auf gemeinsame Silvesterbilder.
    Habt es gut!

    • 9 Jahren ago

      Ja, das finde und freut mich auch. 🙂

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