Ein Blick hinter Frau Jule

22. September 2014
Nach zweiwöchiger Pause beginnt die neue Woche wieder mit einem Blick hinter ein Blog. Heute geht es um Frau Jule und ihr Motto ‚DIY – or die‚? In unserem Gespräch erzählt die musikaffine Sonderpädagogin über ihr Glück in Hamburg zu leben, über die Bedeutung und den Wandel des Selbermachens, über die Digitalisierung und die Motivation zu Bloggen.
Ich sage, Danke, liebe Jule, und wünsche allen einen guten Start in die neue Woche.

Wer ist Frau Jule? 
Frau Jule ist Jule, das bin ich. Ich bin lieber laut als leise, bunt, im Herzen schon immer Nordlicht, mittlerweile zum Glück auch dort.
Was machst du? 
Ich mache Sonderpädagogik. Zum Broterwerb bin ich als Sonderschullehrerin tätig. Im Rahmen der Inklusion heißt das, dass ich Lernende mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf ihrem speziellen Weg zur Partizipation unterstütze. Dazu bin ich aber auch „normale“ Lehrerin. Mein studiertes Fach ist Sozialkunde. Dazu habe ich noch eine Zusatzqualifikation für das Fach Kunst und eine Ausbildung zur Yogalehrerin für Jugendliche. Derzeit unterrichte ich Gesellschaft in der Mittelstufe und Yoga in der Oberstufe im Sportprofil, als Sonderpädagogin tanze ich aber in allen Fächern in denen die Lernenenden (manchmal auch die Lehrenden) Unterstützung brauchen. Somit habe ich in meinem Broterwerb ein sehr weites Spektrum durch alle Fächer und alle Lernniveaus. Das hält meine Arbeit spannend und den Geist wach. Ich bin sehr froh, dass ich in der Sonderpädagogik etwas gefunden habe, was mir so viel Spaß macht, dass es mir manchmal absurd vorkommt, dass ich dafür Geld bekomme. In meiner Freizeit unterstütze ich außerdem eine Familie mit Spezialkind. 
Schon seit dem Refrendariat vor einigen Jahren schreibe ich für www.allschools.de Platten- und Konzertkritiken und fotografiere seit einiger Zeit auch auf Konzerten. Damit bekomme ich meinen ungeheuren Drang nach guter und Livemusik gestillt.
Mit dem Rest meines Lebens stelle ich dann gerne alles mögliche an. Ich bin ein neugieriger Mensch, der immer wieder neue Sachen ausprobiert. Kunst, Gestaltung, Nähen, Häkeln, Stricken, Basteln, Werkeln, Pflanzen, Backen… Nur Kochen tue ich nicht so sonderlich gerne.
Wo und wie lebst du?
Ich lebe in Hamburg, für mich die schönste Stadt der Welt. Vor einem Jahr hatte ich das Pech meine Altbauwohnung mit Garten durch einen Wasserschaden zu verlieren, aber das Glück eine wundervolle riesige Wohnung in einem 70er Jahre Klinkerbau günstig zu ergattern. Diese neue Wohnung ist so sehr zuhause geworden, dass ich es kaum fassen kann. Hier wohne ich alleine und kann tun und lassen was ich will, und das genieße ich sehr!
Das Motto deines Blogs lautet frei übersetzt „Mach selbst – oder stirb“ (DIY – or die!). Was verstehst du unter DIY und warum ist dir das „Selbermachen“ so wichtig?
Da ich zum Teil einen sehr kopflastigen Job habe, freue ich mich immer wieder, wenn ich meine beiden Hände benutzen kann und damit etwas (er)schaffen kann. Vieles habe ich da sicherlich von meiner Großmutter, die das Meiste in ihrem Leben mit ihren eigenen beiden Händen geschaffen hat, vom Hausbau bis zum Nachthemd. Bei ihr habe ich erlebt, welch Lebensantrieb dieses Selbermachen sein kann. Das finde ich – je älter ich werde – immer faszinierender. Selbermachen bedeutet für mich aber auch, dass ich die Dinge so gestalten kann, wie sie mir gefallen, mir passen oder mir schmecken. Denn Ästhetik ist mir unheimlich wichtig. Meine früheste Prägung fand bei den Pfadfindern statt, wo wir in den Zeltlagern sogar die Notwendigkeit der ästhetischen Gestaltung des „Donnerbalkens“ diskutierten. Meine Waldorfschulzeit hat ihr Übriges dazu beigetragen. Im Rahmen meiner Arbeit erlebe ich so viel ästhetisches Elend. Aber Jammern hilft nicht. Machen.
Die DIY-Kultur hat ihre Ursprünge in der Anti-Spezialistenbewegung des 19. Jahrhundert und erlebte ihre erste Hochphase in der Punk- und Post-Punkbewegung der 1970er und 80er Jahre. Sie verstanden sich bewusst als Amateure bzw. Dilettanten; das Improvisierte, das aus Lust und Leidenschaft getriebene Selbermachen war ein Weg der Emanzipation und Selbstermächtigung, das eine ganz eigene Ästhetik (musikalisch wie designsprachlich) hervorbrachte. Wie siehst du die neue DIY-Bewegung? 
Die DIY-Bewegung ist aus den Bauwagen und besetzten Häusern in die gut situierten Wohngegenden gezogen und hat dabei das Selbstermächtigungs- gegen das Ausgleichsprinzip getauscht. Nach einem acht Stunden Arbeitstag noch ein bisschen Stricken, Nähen, Werkeln, Drucken, Schreiben oder Kochen. Das mag nicht im Sinne ihrer Mütter und Väter gewesen sein, doch was soll´s?! Es ist okay. Einige Auswüchse der „neuen DIY- Bewegung“ kann ich hingegen nicht so ganz gutheißen. Vieles ist kommerzialisiert worden und man soll dieses und jenes Material oder komplette Kits kaufen, um Stehrumchen zu basteln… Vielleicht ist das für Menschen mit zwei linken Händen eine gute Möglichkeit den Einstieg zu schaffen, doch grundsätzlich bin ich eine Freundin des Selberdenkens und -machens. Man muss ja nicht immer wieder das Rad neu erfinden, vielleicht aber sich selbst hin und wieder. 
Der ursprünglich DIY-Gedanke ist aber nicht ganz verschwunden. Er lebt zum Beispiel im Musikbereich weiter, vor allem im Indie- und teilweise auch im Elektrobereich. Das kann man bei der Fusion erleben oder dem Immergutfestival. Hier vermischen sich Kunst und Musik, jede/r kann mitmachen, mitgestalten und dahinter stehen keine großen Konzertagenturen, sondern leidenschaftliche Menschen. Das finde ich toll!
Welche Rolle spielt das Internet bzw. Digitalisierung für die DIY-Bewegung?
Das Netz ist ein großes Lexikon und eine wunderbare Material- und Austauschbörse. Hier wird viel Wissen zugänglich gemacht, was meine Großmutter noch selbstverständlich hatte und uns heute nicht mehr vermittelt wird. Außerdem kann man über die Sozialen Medien so unkompliziert und schnell Menschen mobilisieren. Man gibt einen spontanen Treffpunkt bekannt geben und ein paar Stunden später sind tausende Leute da. Super!
Allerdings sehe ich auch eine Gefahr. Wenn ich so durch die Blogs streife, frage ich mich manchmal, ob es noch um die Sache geht oder der Wettbewerb um die witzigste Wortwahl, das beste Foto, das perfekte selbstgenähte Outfit oder die kreativste Upcycling-Idee zum Selbstzweck geworden ist. 
Welche Rolle spielt die Digitalisierung in deinem Leben?
Ich habe gerade vor wenigen Wochen mein erstes Smartphone in Betrieb genommen. Ich hinke da ein bisschen hinterher. Aber ich mag das Internet. Einige meiner Freunde habe ich im Netz kennengelernt. Es ist toll andere Menschen kennenzulernen, die einen ebenso schrägen Geschmack oder seltsame Hobbys haben, die man in der Kneipe um die Ecke nicht getroffen hätte. 
Als ich vor einiger Zeit mal wieder meine alte analoge Fotokamera in Betrieb nahm, war ich allerdings über mich selbst ein wenig erschrocken. Ich konnte es mir den gesamten 36er-Film nicht abgewöhnen, nach dem Abdrücken, hinten auf die Kamera zu schauen, um zu kontrollieren, ob das Bild etwas geworden ist…
Warum und wozu bloggst du?
Ich habe meine Erlebnisse immer schon gerne dokumentiert, fotografisch als auch schriftlich. Irgendwann habe ich begonnen, meine selbstgemachten Sachen zu fotografieren und dokumentieren. Mittlerweile blogge ich auch über allerlei anderes, was sich in meinem Leben so ansammelt. Das scheint einigen Menschen zu gefallen. Andere Menschen inspirieren mich, ich inspiriere andere. Das finde ich schön. Nebenbei habe ich auch immer schon Blogs gelesen. Anfangs die kleinen Reiseblogs von Bekannten, dann kamen die Kreativblogs dazu. 
Und zum Schluss noch Hamburg: Was sind deine Lieblingsorte und wohin sollte ich bei meinem nächsten HH-Besuch unbedingt gehen?
Puh, das ist echt schwer. Es gibt so viele schöne Orte in Hamburg. Auf jeden Fall sollte man im HappenPappen in Eimsbüttel essen gehen und sich von der Großartigkeit der kleinen veganen Küche überraschen lassen. Am letzten Sonntag im Monat ist immer ein kleiner aber schöner Trödelmarkt auf dem Else-Rauch-Platz in Eimsbüttel. Ich genieße es, bei einem Café Latte und Panino im Caffé Latte in der Wohlwillstraße den vorbeilaufenden Leute nachzuschauen oder an lauen Sommerabenden im Park Fiction biertrinkend auf den Hafen zu blicken. Und natürlich sollte man UNBEDINGT mal ein Heimspiel des FC St. Pauli im Stehbereich der Gegengerade oder der Südtribüne mitmachen. Und damit meine ich wirklich mitmachen, inklusive Grölen, Singen, Jubeln und Schreien. Ich glaube auch, dass es in dem noch verrufenen Wilhelmsburg eine Menge zu entdecken gibt, dazu bin ich leider bisher selbst noch nicht gekommen.
Foto: Tastesheriff

7 Comments

  • 9 Jahren ago

    Das ist mal wieder ein richtig schönes, authentisches, ehrliches und nicht-schönredendes Interview! Vielen Dank! 🙂
    Ich hüpfe gleich mal zu Jule rüber und schaue mich um.

    Liebe Grüße, Katja

  • 9 Jahren ago

    liebe indre,
    auch hier nochmals: DANKE für deine mühen! schöne bilder hast du ausgesucht.
    liebe grüße,
    jule*

    • 9 Jahren ago

      Oh, ich danke dir! Und entschuldige, dass ich mich vorab noch mal gemeldet habe bei dir. Turbulente Zeiten …

  • Ich mag Jules Blog auch so gerne…weil sie authentisch und ehrlich ist. Danke für das Interview!

  • zwischen dem ausklingenden 19 JH und der Postpunk-Ära gab es schon eine DIY-Bewegung in der Nachkriegs-Wirtschaftswunder-Zeit mit einer Zeitschrift, die in D-Land 'selbst-ist-der-Mann' heißt und heute noch erscheint, die Veränderung vom 'Eisenwarengeschäft' zum Baumarkt hat zu einer Verfügbarkeit von Werzeugmaschinen für die breite Masse geführt, der eher feminisierten 'dawanda-Klientel' wird das eher nicht ins Konzept passen….. 😉 vlG Tobias

    • 9 Jahren ago

      Stimmt. Aber warum sollte das dem "dawanda-Klientel" nicht ins Konzept passen? Die Selberbauer/innen und die Handarbeiter/innen existieren doch bis heute friedlich neben- bzw. miteinander und in so mancher Person fallen sie sogar beide ineinander.

    • hab doch auch einen 😉 *zwinker* dahinter gesetzt….
      und 'ineinander fallen' in dem Zusammenhang – *lächel*

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