»Wir nehmen nichts mit außer Eindrücken und Bildern« | Interview mit ubx.tz

11. Dezember 2017

Er kriecht durchs Gebüsch und durch dunkle Röhren. Immer ein wenig auf der Hut, immer staunend. Die Vergangenheit ist noch lebendig; hier und dort blitzt die Zukunft auf, schimmert durch die dünne Gegenwart, die sich immer tiefer hineinfrisst in den Raum, ihn überlagert, überwuchert, überschreibt. An vergessenen Orten stapelt sich die Zeit.

Der Ausdruck Lost Place [lɒst ˈples] ist ein Pseudoanglizismus und bedeutet sinngemäß »vergessener Ort«. Der korrekte Ausdruck im Englischen lautet »abandoned premises« (auf Deutsch: »unbewohnte Liegenschaft«) oder umgangssprachlich off the map. Quelle: Wikipedia

Jedes dritte oder vierte Wochenende im Monat packt er seine sieben Sachen: Verpflegung, Camouflage-Jacke, feste Schuhe und – was neben dem Sicherheitsgeschirr das Wichtigste ist – die Kameraausrüstung. Dann macht sich auf den Weg. Es sind Bunker, Kirchen, Industrie- und Militärbauten oder ganze Siedlungen. Wohnhäuser meidet er: zu viel Persönliches.

Mein heutiger Interviewpartner ist ein sogenannter »Urban Explorer«, kurz: Urbexer, und weil sich seine Leidenschaft an der Grenze der Legalität bewegt, muss er anonym bleiben. In unserem Gespräch verrät er, was ihn an diesen Orten reizt, wie er sie findet und erkundet und mit dem Risiko des Hausfriedensbruchs umgeht. Danke, lieber ubx.tz, für die spannenden Einblicke in dein ungewöhnliches Hobby, mit denen ich allen einen guten Start in die Woche.

Du bist ein sogenannter »Urbexer«, d.h. du verbringst einen goßen Teil deiner freien Zeit mit der Erkundung verlassener Orte. Warum?

Als ich mit dem Rumkriechen in verlassenen Gebäuden, Bunkern und Ruinen begann, gab es den Begriff »Urbex« noch nicht. Ich war etwa sechs und verbrachte einige Urlaube mit meiner Familie an der dänischen Nordseeküste, die gespickt ist mit Bunkern des Atlantikwalls. Ich denke, hier liegt der Beginn dieser Leidenschaft, die im Laufe der Zeit immer wieder aufflammte und seit nun etwa zwei Jahren brennt.

Das Interesse an den verborgenen Geschichten, der Reiz des Verfalls und die Rückeroberung der Natur fesseln mich. Zudem die Mischung aus Nervenkitzel, Neugier und Naturerleben – viele »Lost Places« liegen verborgen in Wäldern.

Lost Places ubx.tz

Wie sieht so eine »Urban Exploration« aus und worauf kommt es {dir} an?

Es geht meist sehr früh morgens los, mit Kaffee und oft einem kleinen Frühstück auf dem Hinweg. In der Nähe angekommen geht’s zu Fuß weiter, was auch mal ein paar Kilometer sein können, die quer durch den Wald zurückzulegen sind.

Im »Lost Place« selbst bewege ich mich mit Bedacht auf meine Sicherheit, aber auch mit einer gewissen Ruhe und Respekt vor der Geschichte des Ortes. Es gibt viele Kleinigkeiten zu entdecken, die von der Vergangenheit erzählen, ein Schuh, eine Konserve oder Zeitungen… Ich persönlich mag verlassene Kirchen, Industrie- und Militärbauten am liebsten, da hier die nicht immer allzu ferne Geschichte sehr deutlich zu spüren ist. Verlassene Wohnhäuser widerstreben mir, da oft viel Persönliches hinterlassen wurde. Hier habe ich eine innere Hemmschwelle, die ich nicht überschreiten mag. Auch gibt es Orte, die »gerockt« sind, sprich zerstört: Vandalismus, meist schlechte Graffitis – diesen Orten wurde etwas geraubt, weshalb sie eher leere Hüllen sind. Ganz anders die Orte, die von der Natur zurückerobert werden, sie haben einen ganz eigenen Charme, da der Verfall natürlich ist: Beton wird plötzlich von Farn überwuchert und aus einem Lüftungsschacht wächst eine Birke.

Lost Places ubx.tz

Wie findest du die Orte und wie gelangst du hinein?

Da gibt es verschiedene Wege: Oft sieht man in Foren Bilder von tollen Orten, wenn man Glück hat, entdeckt man auf den Bildern einen Hinweis auf den Ort. Das kann in Form eines Firmennamens sein, den man irgendwo entdeckt oder einer Zeitung die in der Ecke liegt. Man kann die Urheber*innen der Bilder auch direkt fragen, das ist aber nur in seltenen Fällen zielführend, denn zum Schutz der Orte gibt man sich hier eher bedeckt.

Googlemaps ist auch sehr hilfreich, man entwickelt einen Blick für verlassene Gebäude, wenn man über die Welt mit Google Maps fliegt. Auch gibt es sehr gute Internetseiten, die sich mit der Geschichte einer Region befassen, hier findet man auch den ein oder anderen Hinweis. Außerdem baut man sich im Laufe der Zeit sein Netzwerk auf, in dem man sich gegenseitig Tipps gibt; das sind Menschen, die man persönlich kennt, gemeinsam schon auf Tour war und denen man vertrauen kann. Leider gibt es auch in dieser Szene Personen, die bspw. Wände mit Kunstblut beschmieren, um Horrorszenarien darzustellen oder Metall-Diebe, die auf Kupferkabel aus sind.

Wie man in die Gebäude hineingelangt, hmmm, unterschiedlich, aber allen Möglichkeiten ist eines gemeinsam: Was verschlossen ist, bleibt verschlossen! Meist findet man ein offenes Fenster, eine Tür, ein niedergetrampelter oder eine Lücke im Zaun… meine spannendsten Zugänge waren bisher ein Versorgungsschacht unter einer Kirche, dem wir auf allen Vieren kriechend etwa 70 Meter folgen mußten, und eine Kletteraktion über Kühlrohre an einer Hauswand in etwa 10 Meter Höhe. Aber ganz gleich wie man hineingelangt, immer gilt: Sicherheit geht vor, weshalb zur Ausrüstung in der Regel auch Sicherungsgeschirr gehört.

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Welche Orte haben dich am meisten beeindruckt? Warum?

Jeder Ort hat seine eigene Ausstrahlung. Am meisten gefesselt haben mich bisher eine ehemalige Sprengstofffabrik aus der NS-Zeit. Ein riesiges Areal, teils mit unterirdischen Gebäuden, einem noch in Teilen erhaltenen Kohlekraftwerk, verschiedenen Laborräumen, deren genaue Bestimmung leider nicht bekannt ist. Ansonsten bin ich immer wieder gefesselt von den Eindrücken der Kasernen der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte {GSSD}. Dort gab es stets die vollständige Infrastruktur einer Kleinstadt: Kindergärten, Schulen, Clubs und Kulturhäuser, Krankenhäuser, Bäckereien und vielem mehr. Hier kann man sich tagelang aufhalten und entdeckt immer etwas Neues.

Was für Leute sind Urbexer*innen?

Hier kann ich nur von denen sprechen, die ich kenne und das sind ganz unterschiedliche Leute: vom IT-Fachmann Anfang 50 hin zur bunthaarigen Mittzwanzigerin. Was uns vereint ist unser Interesse und unsere Einstellung zu den Orten: Wir begegnen ihnen mit Respekt, wollen nichts außer Eindrücken und Bildern mitnehmen und nichts außer Fußabdrücken hinterlassen. Das geht soweit, das der einzige Raucher unter uns stets einen kleinen Aschenbecher mit dabei hat.

Wie verhält sich euer Hobby zum Recht? Nicht wenige verlassene Orte dürfen ja ohne Sondergenehmigung gar nicht betreten werden.

Eine heikle Frage. Viele reden von Grauzonen, aber wenn es genau nimmt, gibt es hier nur schwarz oder weiß. Denn: Wenn man sich unerlaubt auf einem eingefriedeten Bereich bewegt, handelt es sich immer um Hausfriedensbruch. Ob die Besitzer*innen die unerlaubten Besucher*innen dann tatsächlich anzeigt, ist eine andere Sache.

Wenn man den Besitzer*innen oder der Polizei bei einer Exkursion begegnet, tut man m.E. gut daran, nicht zu diskutieren. Hier stimmt der Spruch »Wie man in den Wald…«, und da man ja meist keine Erlaubnis vorweisen kann, tut man gut daran kooperativ und freundlich zu sein.

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Welche Urbexer*innen sind deine Vorbilder bzw. schätzt du ganz besonders?

Vorbilder habe ich keine; aber es gibt Menschen, die ich sehr schätze und ich habe ich das Riesenglück, mit ihnen unterwegs sein zu dürfen. Außerdem gibt es einige in der Szene, deren Fotos ich sehr mag und hier eher deren Handwerk als Vorbild sehe. Ansonsten gibt es noch einen Künstler, der sich an einigen Lost Places verewigt hat – einer der wenigen, der es schafft den Charme eines Ortes mit seiner Kunst zu unterstreichen: Plotbot Ken.

Welche Webseiten, Literatur und/oder Filme empfiehlst du, wenn man mehr zum Thema »Urban Exploration« erfahren möchte?

Es gibt ein paar Internetseiten mit spannenden Bildern, hier zu nennen auf jeden Fall arcanumurbex und codename lotte. Ansonsten passiert viel auf Facebook in den entsprechenden Gruppen und Seiten und auch bei Instagram.

Zur Geschichte der Orte gibt es häufig gute Online-Chroniken von Hobby-Historiker*innen, die ihr Wissen zusammengetragen haben und online veröffentlichen. Sind eine gute Hilfe und spannende Lektüre. Zum Schutz der Orte nenne ich die Seiten hier jedoch nicht. Daneben gibt es natürlich auch Bücher; viele drehen sich aber eher um die Fototechniken als um die Orte selbst – das liegt in der Natur der Sache, da die Orte ja geschützt werden sollen. Über Lost Places vor allem im Harz gibt es eine zu empfehlende Videoreihe von Enno Seifried.

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