Im Gespräch mit Mobilitätsexpertin Katja Diehl
Katja Diehls Wunschstadt wäre ein Ort, an dem sich alle Menschen wohlfühlen und begegnen können, weil der Raum zwischen den Häusern zum Aufenthalt und Verweilen einlädt. Die Wirklichkeit sieht anders: Hier gehört der Raum zwischen den Häusern größtenteils dem Auto.
Rund 15 Prozent von Berlin (in Zahlen 133 Quadratkilometer) sind Verkehrsfläche: Parkplätze, Straßen, Kreisverkehre, Bahntrassen, Rad- und Gehwege. Und der größte Teil davon dient nicht der Fortbewegung, sondern dem Parken. Die knapp 1,5 Millionen gemeldeten Fahrzeuge (davon 1,18 Millionen PKW) beanspruchen rund 17,5 Quadratkilometer Platz für sich. Im Vergleich dazu: Die Summe aller Spielplätze beträgt gerade mal 3,3 Quadratkilometer – das ist weniger als ein Drittel dessen, was die Berliner Friedhöfe an Fläche einnehmen. (Quelle: Parts of Berlin)
Was können wir tun, um Flächengerechtigkeit zu schaffen? Welche Chancen bietet die aktuelle Krise und warum braucht die Verkehrsbranche dringend mehr Diversität?
Über diese und weitere Fragen habe ich mit der Mobilitätsberaterin Katja Diehl gesprochen. Vielen Dank, liebe Katja, für das inspirierende Gespräch!
Die Corona-Krise verändert unser Mobilitätsverhalten. Welche Chancen und welche Risiken siehst du für die Verkehrswende?
Das größte Risiko ist ein „weiter so wie bisher“. Die Verkehrsunternehmen haben mehrere Milliarden Euro Verluste, nicht zuletzt, weil sie immer noch fahren, obwohl kaum jemand sie nutzt. Auf der anderen Seite wird das Auto als das einzig sichere Verkehrsmittel mit einer großen Wirtschaftskraft auf ein Podest gehoben, von dem wir den privat besessenen PKW in den Anfängen bereits gehievt hatten. Wir brauchen Mobilität für alle, nicht Autos für alle, die diese zahlen und nutzen können.
Schon jetzt gibt es 14 Millionen Menschen ohne Führerschein, prekär Verdienende haben den geringsten Autobesitz in Deutschland, weil ein Auto für manche schlicht zu teuer ist. Eine große Gefahr wäre eine neue Abwrackprämie neben allen den Anreizen und Subventionen, die das Auto ja jetzt schon erhält. Wir haben 47 Millionen Autos. Der Markt ist übersättigt. Jetzt nochmal Geld ausschließlich in diesen zu stecken, wäre fatal.
Aber ich will positiv enden, denn ich sehe auch Chancen. 25 Prozent der Deutschen arbeiten gerade nicht im Büro, sondern im Homeoffice. Und es funktioniert. Natürlich nicht in dem Extrem, das wir aktuell dabei haben mit Kinderbetreuung und Reduzierung der Familienbereiche auf das Zuhause. Aber mit einer Erfahrung, die uns nach Corona keiner mehr nehmen kann: Mobiles Arbeiten ist möglich. Auch wenn das vor Corona viele Unternehmen und Chef*innen nicht wollten. Die Realität zeigt, dass sie falsch lagen. Die Mobilitätswende braucht auch weit weniger Wege, die gemacht werden. Ein Hinterfragen der mobilen Hektik, die wir gelebt haben. Das sollten wir aus dieser Zeit, die sehr viel langsamer abzulaufen scheint, mitnehmen, zugunsten des Klimas.
Katja Diehl arbeitet unter She Drives Mobility als Kommunikations- und Unternehmensberaterin mit Schwerpunkten in Mobilität der Zukunft, Neuem Arbeiten und Diversität.
Sie ist außerdem Speakerin, Moderatorin und Coach, gibt einen Podcast rund um die Themen Mobilitätswandel, Diversität und New Work heraus und führt Gespräche im Livevideo-Format.
Was können und müssen wir tun, um die sich bietenden Chancen nutzen?
Es braucht Co-Working auf dem Land, digitale Infrastruktur in der Provinz und bei Wissensarbeitenden in den Büros unseres Landes größtmögliche Flexibilität von Arbeitszeitmodellen.
Nicht jeder Beruf ist digital, das weiß ich. Es sind aber weit mehr Jobs digital gestaltbar, als wir das aktuell tun. Hier liegt viel Potenzial, Wege, Zeit und Emissionen zu sparen. Im urbanen Raum ist das sehr viel leichter als in der Provinz, aber das heißt nicht, dass das so bleiben muss. Wir können etwas verändern, aber wir müssen das auch wollen.
Kann das wirklich ein Erfolgsprodukt sein, für das wir irre viel Ressourcen verbrauchen, um es dann 45 Minuten am Tag für 1 Menschen zu benutzen?
Katja Diehl | She Drives Mobility
Einige Beobachter*innen fürchten, dass der ÖPNV eines der Verkehrsopfer der Corona-Krise sein wird. Wie siehst du die Zukunft des ÖPNV?
Ich denke, es braucht einen Rettungsschirm für nachhaltige Mobilität. Mutige Förderprogramme für Angebote wie Ridepooling, Carsharing auf dem Land, Radverkehrsinfrastruktur, die diesen Namen auch verdient.
Wir müssen raus aus der autozentrierten Denke. Wir müssen Städte wieder zu lebenswerten Räumen machen und den ländlichen Raum an diese Zentren anschließen. Nicht durch das Auto, sondern durch neue Angebote. Hier ist der Nahverkehr sehr viel lösungsorientierter als die Autoindustrie, die nicht gestaltet, sondern abverkaufen möchte. Daher setze ich sehr auf den Veränderungswillen im Nahverkehr, der uns aber auch etwas wert sein sollte.
Warum keine Nahverkehrssteuer? Warum nicht die Subventionen aus dem Auto in den ÖPNV umlenken? Wir haben eine Klimakrise, da braucht es andere Ideen als noch mehr Autos.
Wird das Auto – wie viele meinen – als Gewinner aus der Pandemie hervorgehen? Und was würde das bedeuten?
Das Auto ist ein tolles Produkt, wenn es richtig genutzt wird. Genau das aber tun wir nicht, unser Nutzungsverhalten macht es zum echten Loser der Mobilitätsformen. Denn mal ehrlich: Kann das wirklich ein Erfolgsprodukt sein, für das wir irre viel Ressourcen verbrauchen, um es dann 45 Minuten am Tag für einen Menschen zu benutzen? Zwei Tonnen Stahl, um 80 Kilo zu bewegen? Für mich sieht das nicht nach Erfolg aus.
Wenn wir aber weiterhin so viel Geld in dieses Produkt platzieren, dann ist es billig genug, dass es sich die Menschen dennoch anschaffen werden. Aber auch alle Menschen? Wer kauft denn Neuwagen, wer kann sich das leisten? Das geht in vielen Fällen über Dienstwagenregelungen, Rabatte und Leasing. Das Auto wird preislich künstlich attraktiver. Das muss aufhören. Es bedarf der echten Kostentransparenz – und dazu gehören auch die Kosten der Umweltzerstörung, die ein Auto verursacht.
Vor dem Hintergrund der Corona-Krise werden in vielen Städten Verkehrsflächen umverteilt vom Auto- zum Rad- und Fußverkehr. Während die Autolobby von Ausnutzung einer Notsituation zur Durchsetzung von Partikularinteressen spricht (Quelle), sehen andere darin die Herstellung von Flächengerechtigkeit. Wie siehst du das?
Das heutige System ist von Grund aus nicht gerecht. Es bevorzugt ein Verkehrsmittel, das in vielen Fällen herumsteht. Es gibt diesem in der Stadt so viel Raum, der eigentlich allen gehören sollte.
Natürlich empfinden Jene, die ihre Privilegien als gottgegeben ansehen, die Rückeroberung der Stadt für den Menschen als individuellen Verlust. Aber: Dieses Privileg baut auf der Unfreiheit anderer aus. Die sich im Straßenverkehr auf dem Fahrrad innerhalb der Automassen bewegen oder als Fußgänger*in auf schmalsten Gehstreifen ihre Mobilität ausüben dürfen.
Der Bus steht im Stau, den der PKW macht, obwohl im Bus weit mehr Menschen sitzen. Jede:r sollte einmal in sich gehen, ob das Privileg „freie Fahrt für freie Bürger*innen“ nicht allen gehört – und nicht nur den Automobilist:innen. Echt Freiheit kann es nur geben, wenn diese allen geboten wird. Das Gleiche gilt für Stadtraum.
Was hältst du vom Begriff der Flächengerechtigkeit? Und wie sähe eine Stadt aus, in der der öffentliche Raum gerecht verteilt ist?
Der Mensch stünde im Mittelpunkt. Um ihn und seine Bedürfnisse herum würde die Stadt konzipiert. Nicht um Fahrzeuge aus Stahl. Alles, was sich mit Muskelkraft bewegt, hat Vorrang in der Planung. Also auch Rollstuhlfahrende und Menschen mit Rollator oder Kinderwagen mit ihren speziellen Bedürfnissen an Raum, Barrierefreiheit und Geschwindigkeit. Denn das Rasen durch unseren Alltag ist nicht selten auch durch die Alltagsmobilität erzeugt.
Wenn wir hier weniger Tempo in der Stadt erlauben, tut das allen Mobilitätsformen gut. Vor allem Jenen, die aktuell keine Lobby haben. Denn da ist diese riesige Autolobby und all die kleinen „Lobbys“ von Radfahrer*innen oder Fußgänger*innen und eine große „schweigende Mehrheit“, die ohne Auto leben möchte, aber nicht weiß wie.
Meine Stadt ist ein Sehnsuchtsort, wo sich all diese Menschen wohl fühlen dürfen, stattfinden, gesehen werden. Und wo sie sich begegnen, weil es keine „Straßenschluchten“ mehr gibt, sondern der Raum zwischen den Häusern so gestaltet ist, dass er zum Aufenthalt und verweilen einlädt. Mit viel Grün, guter Luft und Ruhe.
Du hast dich als selbstständige Beraterin, Coach und Moderatorin auf den Sektor Mobilität und Transport fokussiert. Wie steht es um die Diversity in der Männer*-Domäne Mobilität und Transport?
Es hört sich blöd an: Aber die mangelnde Diversität der Autobranche kommt ihr grad zugute: Die Industrie spricht mit einer Stimme, ist sich nicht „zu schade“, Unsagbares zu sagen, wie: Wir wollen Verbrennerautos verkaufen, nicht Elektroautos (denn die haben wir noch nicht in ausreichender Stückzahl). Und das zeigt auch wie unter einem Brennglas, wie problematisch Homogenität ist.
Ich bringe immer die Anekdote, dass wir in der Mobilitätsbranche weniger Frauen in Führung haben als in der katholischen Kirche, wo Frauen Kindergärten leiten und Pflegeeinrichtungen. Und das leitet mich auch rüber zu:
(Warum) Braucht es mehr Vielfalt im Bereich von Mobilität und Transport?
Es braucht dringend Vielfalt. Neue Verkehrsangebote wie MOIA oder CleverShuttle sind nicht barrierefrei und schließen damit Menschen mit Mobilitätseinschränkungen aus. Viele Leihfahrräder -– und das mag minimal klingen – haben keine Möglichkeiten, Taschen unterzubringen – die aber viele Frauen und auch Männer mitführen.
Es gibt viele kleine Details, vor allem in neuen Produkten, die zeigen, wie „gesund“ es für die Marktfähigkeit neuer Produkte ist, wenn nicht nur eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe die Mobilität entwirft, sondern ein Abbild der Gesellschaft. Wir wollen die Menschen wahlfrei machen, also die Abhängigkeit vom Auto durch neu eAlternativen auflösen. Das kann nur gelingen, wenn wir die Bedürfnisse möglichst vieler kennen, die jetzt noch das Auto benutzen.
Welche Chancen und Herausforderungen ergeben sich deines Erachtens für Beratung, Coaching und Moderation in Zeiten von Corona im Allgemeinen und für den Bereich Mobilität und Transport im Besonderen?
Ich sehe es als „positives Irritieren“ an, jemanden wie mich in den Prozess einzubinden. Nicht als klassische Beraterin einer bestimmten Firma, sondern als ein Mensch, der sich seit zwei Jahrzehnten für den Mobilitätswandel einsetzt, den Menschen und damit die Kund*innen im Fokus hat und dabei mehr als 15 Jahre Erfahrung in Bus, Bahn, Logistik mitbringt.
Ich habe echtes Interesse am Wandel. Der tut sicher manchmal weh, weil Altes hinter sich gelassen werden muss. Aber das Neue, was entsteht, wird sehr viel mehr Menschen begeistern, weil neue Perspektiven einfließen können. Der neue Weg ist nie der einfachere, aber er ist notwendig, wenn wir die Klimakrise ernst nehmen. Denn der Verkehrssektor ist der Einzige, der im letzten Jahr sogar noch seine Emissionen gesteigert.