»Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile«, besagt der gestalttheoretische Leitsatz, der auf Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) zurückgeht. Das erklärt zum Beispiel, wie aus Theorie + Musik + Begegnungen = Kunst werden kann.
Nach seinem Studium der sozialen Arbeit hat Stefan Weiller unter anderem als Pressereferent bei verschiedenen sozialen Hilfsorganisationen gearbeitet. Dort begegnete er Menschen, die in Not oder auf die sogenannte schiefe Bahn geraten waren und ließ sich von ihren Schicksalen berühren – wie von der klassischen Musik. 2009 entstand so sein erstes Projekt an der Schnittstelle von Kunst und Sozialarbeit: Die »Deutsche Winterreise« erzählt mit Franz Schubert von Wohnungsnot und Armut und Flucht. 2012 folgten die »Wiegenlieder« über häusliche Gewalt, 2013 die »Letzten Lieder und Geschichten«, die vom Sterben handeln.
Es sind alles andere als leichte Sujets, die Stefan Weiller in seinen Kunstprojekten behandelt. Im heutigen Montagsinterview erzählt er, was ihn dazu bewegt, wie er sich den Themen und Menschen nähert und was seine Arbeit mit ihm und anderen macht. Vielen Dank, lieber Herr Weiller, für das anregende Gespräch, mit dem ich allen einen inspirierten Start in die KW 3 wünsche.
Was motiviert Sie, sich immer wieder mit tieftraurigen, häufig totgeschwiegenen Themen auseinanderzusetzen?
Dabei leitet mich ein Grundsatz aus meinem Studium der sozialen Arbeit. Er lautet, dass man »Stimme der Stummen« sein und für Interessen benachteiligter Gruppen eintreten soll, ohne jedoch die Menschen, für die man sich einsetzt, stumm zu halten oder zu bevormunden. Obwohl ich nicht als Sozialarbeiter tätig bin, ist meine künstlerische Arbeit davon beeinflusst.
Dafür recherchiere ich, wie viele andere Künstler auch, sehr sorgfältig, studiere das Umfeld, in dem das Projekt angesiedelt sein soll: bei Obdachlosen, bei Geschlagenen, bei Flüchtenden, bei Sterbenden, bei Verlassenen, bei Kranken. Dieser dokumentarische Ansatz, die Verbindung von Kunst und Leben verschafft meiner Arbeit Glaubwürdigkeit.
Für mich stellt es ein Privileg dar, dass Menschen, die bei sozialen Einrichtungen um Hilfe nachsuchen, mir als Autor und Projektkünstler vertrauen und ihre Erfahrungen sozialer und existenzieller Herausforderungen mit mir teilen und ich diese in meinen Projekten aufgreifen und künstlerisch frei verarbeiten darf. Dankbar bin ich auch den sozialen Trägern, die mir immer wieder Gesprächspartner*innen vermitteln.
Woraus entstehen Ihre Projektideen? Sind es Anlässe, Begegnungen mit Menschen oder die Auseinandersetzung mit den musikalischen Vorlagen?
Anfangs war ich von Begegnungen inspiriert, die ich machte, als ich für Diakonie und Caritas als Pressereferent und später als Journalist gearbeitet habe. Ich habe damals Menschen in Obdachloseneinrichtungen oder eben auch in Frauenhäusern und Hospizen kennengelernt. Das waren eindringliche Erlebnisse, die in mir den Wunsch stärkten, die Biografien der Menschen behutsam in Kunstwerke zu bringen, die sinnlich und sachlich das nacherzählen, was unsere Gesellschaft ausmacht: eben auch die Not des Individuums.
Die Themen liegen im wahrsten Sinn auf der Straße oder vollziehen sich in der stillen Kammer einer sozialen Einrichtung. Ich werde von Menschen in großer Not an diese Orte eingeladen, damit andere Menschen über meine Arbeit verstehen mögen, wo ihre eigene Verantwortung und die Verantwortung einer solidarischen Gesellschaft liegen. Das ist spannend, aber durchaus auch herausfordernd. Bequem, belanglos und behaglich sind meine Arbeiten nie – das schätze ich daran.
Was haben Sie im Rahmen der Projekte »Deutsche Winterreise« und »Die schöne Müllerin« über Obdachlosigkeit gelernt? Welche Erfahrungen oder Begegnungen haben Sie ganz besonders berührt?
Ich habe erkannt, wie schmal der Grat zwischen sozialer Sicherheit und sozialem Absturz ist. In meinen Projekten begegne ich immer auch mir selbst, meiner eigenen Betroffenheit, meinen Ängsten – darin liegt die Chance, mein Leben ständig neu auszurichten und zu hinterfragen. Und natürlich begreife ich, wie sehr wir als Gesellschaft in der Verantwortung sind, auch denen zu helfen, die wir vielleicht nicht immer verstehen, nicht unbedingt lieben oder persönlich mögen. Wir dürfen nicht fragen, woher jemand kommt, wie er denkt und welchen Charakter ein Mensch hat, der unsere Hilfe sucht. Die Notwendigkeit zu Helfen ergibt sich aus der Bedürftigkeit des Menschen, der die Hilfe braucht. Alles andere wäre Willkür.
Es gibt zweifellos Begegnungen, die mein Leben ganz persönlich verändert haben; etwa die sterbende Frau, die ihre vermeintlichen Versäumnisse offen einräumte und mich damit ermahnte, mein Leben als Gestaltungsraum zu erkennen und zu nutzen. Ihre Mahnung war der nötige Anstoß, mich ganz meinen Projekten zu widmen und meinen bisherigen Job aufzugeben. Ich habe es nicht bereut.
Wie hat sich Ihr Blick auf den Tod bzw. das Sterben durch Ihr Hospiz-Projekt verändert?
Lassen Sie mich fragend antworten: Ab wann sterben wir? Ist es der Zeitpunkt der Geburt? Sterben wir in dem Moment, da wir eine unheilbare Diagnose erhalten oder mit dem Einzug ins Hospiz? Oder sterben wir im letzten Atemzug? Meine Schlussfolgerung lautet: Wir können leben und gestalten bis zuletzt – ohne in Aktionismus zu verfallen. Das befreit mich. Menschen im Hospiz lachen mit mir. Wunderbar.
Im Februar 2017 ist das gleichnamige Buch erschienen: »Letzte Lieder« versammelt 77 Begegnungen mit sterbenden Menschen und ihren Angehörigen.
Stefan Weiller
»Letzte Lieder. Sterbende erzählen von der Musik ihres Lebens«
Edel Verlag, Hamburg 2017
255 Seiten, 19,95 €
»Ein höchst lesenswertes Buch.« Peter von Becker, in: Der Tagesspiegel vom 5.04.2017
In Ihren Projekten kommen Menschen zu Wort bzw. Geschichten zur Sprache, die in unserer Gesellschaft kaum Gehör finden. Was macht es mit ihnen, dass ihre »unerhörten Geschichten« ein Forum und Zuhörer*innen finden? Verändert die Projektarbeit und/oder das Projekt das Leben dieser Menschen?
Es wäre vermessen und anmaßend zu meinen, ich veränderte Leben. Was mit meinen Gesprächspartner*innen im Nachgang innerlich geschieht, kann ich beurteilen und möchte ich auch nicht gezielt beeinflussen. Ich glaube aber, dass die Selbstreflexion im Gespräch eine Chance für neue Sichtweisen sein kann.
Ebensowenig weiß ich, wie mein Buch oder meine Musiktheaterabende die Besucher*innen verändern. Ich hoffe, dass die Auseinandersetzung mit meiner Arbeit neue Fragen aufwirft.
Sie haben Sozialpädagogik absolviert und einige Semester Innenarchitektur studiert. Wie kamen Sie zur Kunst bzw. Musik?
Sie kamen vielmehr zu mir – über Bücher, Schallplatten, Theaterbesuche, Opernabende, Museumsbesuche, Radio, Kino und alle möglichen Kanäle und Medien. Und sie haben mein Leben reicher gemacht.
»Hast mich in eine bess’re Welt entrückt. O holde Kunst, ich danke dir!« aus: Franz Schubert »An die Musik«
Dem kann ich mich nur schwärmerisch anschließen. – Schubert ist wohl ohnehin der Größte! Wäre da nicht noch Mozart…
Und als letzte Frage, die ich so oder so ähnlich allen Kunstschaffenden stelle: Was kann Kunst bewirken und wie kann Kunst wirken im Unterschied zu anderen »aufklärenden« Disziplinen wie Wissenschaft und Journalismus?
Kunst kann uns jene Erkenntnis und Wahrhaftigkeit schenken, die uns die Realität zuweilen vorzuenthalten scheint. Aber ich will Kunst, Wissenschaft und Journalismus nicht gegeneinander ausspielen. Alle diese Disziplinen sind gleichwertige Grundpfeiler einer stabilen Gesellschaft, wenn sie in bester Verantwortung betrieben werden und sich frei entfalten können. Ohne Freiheit ist alles nichts.
Alle Fotos: Stefan Weiller