Umherschweifen in Barcelona

9. Oktober 2015
Als wir die Reise planten, fühlte es sich unendlich lang an – und plötzlich stand sie unmittelbar bevor. Nun liegt sie schon wieder hinter mir. Drei Tage Barcelona. Das langt für den berühmten ersten Eindruck, an dem sich entscheidet, ob man sich mag oder nicht. – Ich mag die Stadt. 
Barcelona hat mich überrascht. Im Kopfgepäck Geschichten von Taschendieben, die einen in die Privatinsolvenz treiben und die typischen Bilder südeuropäischer Städte. Und dann das: renovierte Fassaden statt morbidem Charme, saubere Straßen (trotz vieler Hunde fast komplett frei von Hundesch***) statt überquellender Mülleimer, lässige Leute statt Touristenmassen und jede Menge gutes Design, schöne Architektur und große Kunst. Die viertintelligenteste Stadt der Welt: das „Zürich von Spanien“. Vielleicht sähe ich die Dinge anders, wäre ich länger als 60 Stunden dort gewesen?!
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„Falls Du zum ersten Mal da bist“, riet mir Nicole {goingwierd.de} kurz vor der Abfahrt, „machst Du einfach die Touristensachen, für die Barcelona so bekannt ist. Es hat seinen Grund, dass alle so auf die Bauwerke von Gaudí und den Mercat de la Boqueria abfahren. Falls Du nicht zum ersten Mal da bist, solltest Du unbedingt ins Museu del Disseny de Barcelona.“ Ich habe ihren Rat nicht ganz befolgt und sowohl die Gaudi-Klassiker als auch das Designmuseum besucht. Es hat sich gelohnt.

Vor allem aber habe ich mich treiben lassen. Kilometerweit: zwischen Park Güell und Meer, Eixample und GràciaSant Pere und Poblenou. Nach und nach hat sich so ein Gefühl für die Stadt entwickelt, für ihre räumliche Struktur und ihre Atmosphären. Die Situationisten haben diese Gangart zur Methode erklärt: Beim „Herumschweifen“ (frz. Dérive) wird „der Stadtraum zerlegt, verstreut und neu zusammen gesetzt […], bis seine „psychischen Klimazonen“ spürbar und für den Augenblick erfahrbar [werden]“.* Aber ganz gleich ob man es methodisch betreibt oder sich einfach so treiben lässt, es ist – finde ich – die schönste Weise eine Stadt kennen zu lernen. Und Barcelona eignet sich ganz besonders gut dafür.

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Meine schönsten Entdeckungen:
  • Der Plaça de la Virreina im Szene- und Künstlerviertel Gràcia. Es ist ein guter Ort zum Verweilen. Zwischen jungen Familien, spielenden Kindern, plaudernden Menschen, Straßenmusik, kleinen Cafés und Läden habe ich fast ein wenig zuhause gefühlt. Im Bateau Lune gibt es feinste Spielzeuge und Bücher, und gleich nebenan Selbstgenähtes und schöne Stoffe. 
  • Gefallen hat mir der Parc de la Ciutadella im Stadtteil Ciutat Vella. Hier treffen sich die Bewohner/innen Barcelonas – zum Rasten, Ruhen, Spazieren, Picknicken oder Standardtanzen im Pavillon. 
  • Seltsam unruhig und angespannt empfand ich die Atmosphäre rund um das Museu d’Art Contemporani de Barcelona, kurz: MACBA in El Raval, die sich im Nachhinein erklären ließ: Der Stadtteil hat turbulente Zeiten hinter sich und befindet sich seither im Übergang. Das strahlend weiße Ausstellungshaus von Stararchitekten Richard Meier hatte schon geschlossen  als ich endlich entkam und so genoss ich statt Kunst die Skater-Performances.
  • Als ich Abends an der riesigen Markthalle entlang schlenderte, dachte ich zunächst es handle sich um eine umgebaute Konzerthalle. Erst am nächsten Morgen, als es mich zufällig wieder ins Barrio del Born verschlug, erkannte ich, dass „das schönste und grösste gusseiserne Bauwerk Spaniens“ (Quelle) die Ruinen der barocken Ribera-Viertels beherbergt. Außerdem befindet sich im Ausstellungszentrum El Born ein ausnehmend schöner Buchladen und ein schickes Restaurant.
Entgegen der „reinen Lehre“ des Herumschweifens habe ich aber doch ein paar Fixpunkte gesetzt. Zuvorderst natürlich meine Unterkunft, die nicht nur genial zentral in unmittelbarer Nähe der Sagrada Familia lag, sondern auch sehr schön war. Auch ein paar Cafés und Restaurants hatte ich – neben den Gaudi-Bauwerken – vorab recherchiert und nach meinen Ausschweifungen mit knurrendem Magen sehr zielstrebig angesteuert. Besonders zu empfehlen das Tragaluz im Stadtteil Navas: feines Essen, schönes Design und freundliches Personal, das offenkundig Spaß an seiner Arbeit hat. Und der Besuch am Meer war ebenfalls geplant.
Mein Resümee: Ich komme wieder. Und dann verlauf ich mich. Ganz absichtsvoll und zielstrebig.
*Debord, Guy (1995 [1959]), »Einführung in die Kritik der städtischen Geographie«, in: Ohrt, Roberto (Hg.), Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, Hamburg)

4 Comments

  • 9 Jahren ago

    Wie zum Flanieren gemacht, finde ich auch. Besonders Gracia mit den kleinen alten Häuschen. Ich glaub ich fahr nächstes Jahr einfach auch mal wieder hin!

  • 9 Jahren ago

    Oh, wie du mir aus dem Herzen sprichst! Auch ich war letztlich ein paar Tage in Barcelona mit einer Freundin. Zu Hause hatte ich ein paar Probleme mich der Stadt anzunähern. Aber nach ein paar Stunden hatte ich gewisse Fixpunkte, gesetzt durch das Hotel oder bestimmte Plätze und fühlte mich dort schon etwas mehr angekommen. Auch uns ging es wie dir: zuerst haben wir natürlich die Zeit einige touristische Highlights "abgearbeitet", haben uns zwischendurch aber immer wieder treiben lassen, teilweise verlaufen auf der Suche nach einer bestimmten Kathedrale, dafür aber wunderbare andere Orte entdeckt. Jetzt zu Hause, in der Nachbereitung, merke ich dass mich die Stadt mehr verzaubert hat, als ich erwartet hatte. Auch meine Freundin und ich sagen: wir kommen wieder!

  • 9 Jahren ago

    … und dann verlauf ich mich….
    Herrlich! Das ist ein schönes Kompliment an diese Stadt, welche ich leider noch nicht gesehen habe.
    Aber alle, die sie gesehen haben, schwärmen von ihr.
    Liebe Grüße von Heike

  • Ich hätte jetzt auch Lust mich zu verlaufen in Barcelona! Schöne Bilder, die Lust auf mehr machen. LG, éva

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