Verena Schulemann lebt mit ihrer achtköpfigen Patchworkfamilie in Berlin und schreibt u.a. auf MAMA BERLIN. Kennengelernt habe ich Journalistin und Bloggerin auf dem Familienblogger*innen-Café vom BMFSFJ. Was sie dort über Solo-Mamas, Patchworkfamilien und Trennungseltern sagte, sprach mir aus dem Herzen und machte mich neugierig. Also habe ich ihren Blog rauf- und runter- und quergelesen, was mich nur noch neugieriger machte auf die Frau hinter den Texten. Als sie meine Interviewanfrage dann mit »Ja« beantwortete, habe ich mich riesig gefreut, nicht zuletzt da es nur noch wenige Tage bis zur Geburt ihres 2. bzw. 7. Kindes waren {mittlerweile ist es da: alles, alles Gute und Liebe euch allen 9!}.
Für das spannende Gespräch, all die Gedankenanstöße und neuen Perspektiven sage ich: Danke, liebe Verena, und wünsche allen einen angeregten Start in die neue Woche!
Du bist Journalistin und lebst in Berlin, schreibst und bloggst, kennst unterschiedliche Familienmodelle {von klassisch über Solo bis Patchwork} und männliche Gewalt. Was sollte man noch über dich wissen?
Die Reihenfolge der Auflistung ist interessant, aber inhaltlich richtig. Mein Blog heißt MAMA BERLIN – a good women project, denn die Frauen aus Berlin, auch die Mütter dieser Stadt waren schon immer speziell und immer schon ein wenig anders: Marlene Dietrich, Käthe Kollwitz, vielleicht auch Magda Goebbels … auf alle Fälle ist das deutsche Mutterbild ein Thema für sich und für mich. Wir sind anders als französische oder skandinavische Mütter. Aber warum? Und was bedeutet dieser Einfluss und diese Art für unser Kinder und die Männer? Sich darüber Gedanken zu machen, finde ich sehr spannend.
Auf deinem Blog MAMA BERLIN widmest du dich überwiegend unbequemen Themen wie »Die Einsamkeit der Solo-Mamas«, »Diskriminierung von {Solo-}Müttern« oder zweifelhafte Männlichkeit. Dabei scheust du dich nicht, statt nur die Dinge, auch die Personen beim Namen zu nennen, was dir mitunter krude Kommentarschlachten beschert. Warum gehst du diesen unbequemen Weg?
Namen nenne ich selten und nur, wenn im Vorfeld mein Name genannt wurde. Es wurden schon abenteuerliche Dinge über mich in die Welt gesetzt – frei erfunden – ich hätte auch mit einem Anwalt dagegen vorgehen können, bislang belasse ich es bei einem Blogger-Battle und nehme die Sache sportlich und mit gewissem Humor. Meistens können die Protagonisten damit auch gut umgehen, nur die Anhängerschaft ist weniger locker, aber beschert dann ihren Gurus gute Klickzahlen – mir auch, wobei diese doch manchmal kruden Kommentare, die sich auch manchmal im Gedankengewirr verlieren, auch mühsam sind zu moderieren. Ich veröffentliche nicht alles, so wie auch nicht jeder Leserbrief veröffentlich wird. Sind Beleidigungen, Sexismus und Rassismus im Spiel, fliegen die Kommentare als Spam raus.
»Das Leben wäre so viel leichter und angenehmer, wenn Frauen und Männer in allen Bereichen gemeinsam an einem Strang ziehen und kooperieren würden anstatt Geschlechterkampf zu betreiben.«
Auch die kritische Auseinandersetzung mit aktuellen Rollenbildern gehört in dein Themen-Portfolio. Welche Entwicklungen beobachtest du in Sachen Frauen*-/Männer*-, Mütter*-, Väter*-Rollen und was findest du besonders kritisch?
Eigentlich finde ich, sind wir auf einem guten Weg. Gesellschaftlicher Wandel ist ja stetig. Wenn wir uns nur die letzten 200 Jahre ansehen, hat sich doch sehr, sehr viel verändert und das meiste positiv. Wie eine bürgerliche Frau 1867 sein sollte und welche Rechte und Freiheiten sie heute hat – da ist schon ein enormer Fortschritt zu erkennen. Auch die Lebensbedingungen der unteren Gesellschaftsschichten ist 2017 sicher ein besserer als 1905 – vor allem hier in Berlin.
Bedenklich sind aber weiterhin eine ganze Reihe an Dingen: Gesetze, die zu Benachteiligung ganzer Gruppen, wie z.B. alleinerziehender Mütter und zu Spaltung innerhalb der Gesellschaft führen und das Prinzip der Chancengleichheit untergraben. Der Schutz der »Ehe«, der im Grundgesetz {Artikel 6} verankert wurde und für die heutige Gesellschaft meines Erachtens total veraltet und schon diskriminierende Züge entwickelt hat, weil es Familie in zwei Kategorien einteilt: in verheiratete, privilegierte Eltern und den Rest.
Die Rollenklischees, an denen so starr festgehalten wird, die Ängstlichkeit vieler Frauen vor allem Mütter, sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten, der daraus folgende Rückzug ins Häusliche – und auf der anderen Seite der Sexismus vieler, oft unreflektiert oder in zynischer Manier, von Menschen, die manchmal schon fast manisch an ihren Pfründen klammern, obwohl sie sich selbst davon eingeengt fühlen. Dabei wäre das Leben doch leichter und angenehmer, wenn Frauen und Männer in allen Bereichen gemeinsam an einem Strang ziehen und kooperieren würden anstatt Geschlechterkampf zu betreiben.
Auf dem #FamBloggerCafe des Familienministeriums hast du dich gegen ein Entweder-Oder in Sachen Umgangsrecht – entweder Residenz- oder Wechselmodell – ausgesprochen. Was wäre deiner Meinung nach der bessere Weg, wenn getrennte Eltern die Frage des Umgangs mit den Kindern nicht selber regeln können {was sicher am besten wäre, aber oftmals nicht möglich ist}?
Das Thema ist ein ganz heißes Eisen. Hier reiben sich die Geschlechter auf – und am Ende verliert immer nur einer: nämlich das Kind. Vielleicht kurz zu dem, was derzeit praktiziert wird: Wenn sich Eltern nach einer Trennung nicht einigen können, dürfen sie sich gegenseitig oder auch einseitig verklagen. Jugendämter werde involviert, sollen eine Schlichtung herbeiführen, nehmen aber meist schon Partei für einen der beiden Elternteile ein, Familiengerichte entscheiden letztendlich. Also irgendein/e Richter/in, die/der das individuelle Familienschicksal als Fall von vielen behandelt und mal im Interesse des einen, mal des anderen Antragstellers ein Urteil fällt. Wer will, kann dann auch noch weiter oder immer wieder klagen und weitere Anträge stellen, je älter die Kinder, desto mehr werden sie in diesen Prozesskampf der Eltern hineingezogen und müssen zum Teil vor Gericht ihre Meinung kundtun, z.B. bei welchem Elternteil sie hauptsächlich leben möchten. Dass das meistens nur zum Schaden der Kinder von statten gehen kann, liegt ziemlich deutlich auf der Hand, ist leider dennoch hundertausendfache Praxis. Leider bedienen sich immer mehr Eltern dieses Weges, anstatt selbst gemeinsam mit Hilfe von Mediatoren oder Psychologen einen eigenen Weg auszuarbeiten – was natürlich Verständnis, Kompromissbereitschaft, aber vor allem Verantwortung für das Kind voraussetzt.
»Es geht um Verantwortung für das Kind, nicht um Besitzansprüche am Kind.«
Was ich hier aber kritisiere ist Folgendes: Niemand würde sich in die Erziehung oder die Familiengestaltung von bestehenden Paaren einmischen und ihnen vorschreiben, wie sie die Familie organisieren sollen. Nach einer Trennung tut das der Staat aber, wie ich finde, sogar teilweise massiv und oft auch mit Urteilen, die nicht zum Guten führen – wobei das keine Kritik an der deutschen Gerichtsbarkeit sein soll, die Mittel sind hier einfach zu beschränkt. Was meines Erachtens viel mehr berücksichtigt werden sollte, ist die Zeit VOR der Trennung: Jede Familie lebt ein individuelles Familienleben, ich nenne das mal eine eigene Familientradition. Einige leben das klassische Modell – Finanzen und Erziehung und Haushalt nach Elternteilen aufgeteilt. Die andere teilen sich Beruf und Erziehungsarbeit – und dass die Familien so unterschiedlich sind, das ist ja auch gut so. Nach einer Trennung dann zu sagen: So, jetzt werden die Karten neu gemischt, jetzt kommen die Kinder entweder ganz zu Elternteil XY {Residenzmodell} oder sie werden jetzt paritätisch {Wechselmodell} aufgeteilt, halte ich für fatal und eine unglaubliche Bevormundung, ich wünsche mir hier mehr Sensibilität und mehr Individualität.
Es sollten zum einen die Hürden für einen Rechtsstreit höher gelegt, außerdem den Eltern genügend Zeit gelassen werden, eine Lösung in kleinen Schritten für ein schweres Problem zu finden – ein Jahr halte ich da für ein Minimum. Die bisherige Lebensweise sollte den Ausschlag gegeben; es sei denn, die Eltern einigen sich auf eine neue Regelung. Außerdem würde ich Sorge- und Umgangsrecht in Sorge- und UmgangsPFLICHT umbenennen, denn darum dreht es sich wirklich. Die Leute hauen sich da draußen auch die Köpfe ein, weil sie denken, sie müssten ihre Pfründe sichern. Hier sollte klar werden: Es geht um Verantwortung, damit das Kind gut aufwachsen kann – nicht um Besitzansprüche am Kind. Außerdem wäre es gut, Partnerschaftsverträge einzufordern, mit diesem Instrument könnten Eltern in guten Zeiten festlegen, wie sie in schlechten Zeiten, also im Fall einer Trennung, die Familienstruktur regeln würden wollen.
Du kennst viele verschiedene Familienmodelle aus eigener Erfahrung: das Klassische, die Solo-Elternschaft und nun Patchwork. Was zeichnet die verschiedenen Modelle deiner Erfahrung nach aus und welche Rahmenbedingungen bräuchten wir, damit jeweils ein gutes Leben möglich ist?
Für ALLE Familienmodelle gilt: Es kommt darauf an, was wir daraus machen. Ich finde nicht, dass die klassische Vater-Mutter-Kind-Konstellation automatisch das Ideal ist. Dafür kenne ich wirklich zu viele Gruselehen und dysfunktionale – nach außen vielleicht als »heile Welt« geltende – Familien. Auch kenne ich viele glückliche Alleinerziehende und tolle Regenbogenfamilien. Wenn wir uns Umfragewerte unter jungen Leuten bis 39 Jahren anschauen, ist hier auch schon viel Offenheit für die unterschiedlichen Modelle da: 90 Prozent sagen, dass natürlich auch Alleinerziehende eine Familie sind. Leider sieht es in den Köpfen der älteren Generationen aber anders aus – vielleicht auch, weil sie ihr Eheleben nun schon so lange aufrechthalten und das auch irgendwie gewürdigt sehen wollen?! Wie dem auch sei, ein Riesenschritt wäre eine Lockerheit und eine grundsätzliche Toleranz, dass Familienleben Privatangelegenheit ist, dass die Gestaltung vielfältig ist und am Ende ja nicht die Form zählt, sondern nur eins: die Liebe. Aber ich fürchte, bis dahin ist es ein noch ein langer Weg. Aber wir bewegen uns schon in die richtige Richtung…
»Was zählt ist doch nicht, wie wir Familie gestalten, sondern ob es gelingt zu lieben.«
Die Liebe misslingt jedoch häufig, was ohne Kinder schmerzlich, mit Kindern schwierig ist. Wie könnte eine liebevoll »gescheiterte Liebe« gelingen?
Durch mehr elterliche Verantwortung. Früher hieß es: »Drum prüfe, wer sich ewig bindet …« – das sollte wieder mehr zum Leitsatz werden und schon in der Schule thematisiert werden – im Rahmen eines Familien und Beziehungsunterrichts, der den für mich total veralteten Sexualkundeunterricht ersetzt. Es ist so wichtig, dass wir uns frühzeitig damit auseinandersetzen, was familiäres bzw. elterliches Scheitern – auch oder vor allem rechtlich – bedeutet: Ihr seid jetzt glücklich, bekommt ein Kind, seid zusammen, aber das kann eines Tages auch vorbei sein, was macht ihr dann?
Um einen liebevollen Umgang nach einer »gescheiterte Liebe« zu ermöglichen, rate ich prinzipiell zu einem Partnerschaftsvertrag, der in Zeiten geschlossen wird, in denen man sich gut versteht und der die wichtigsten Dinge nach einer Trennung fair regelt – ähnlich wie man ja auch sein Testament macht und auf diese Weise vorsorgt. Das wäre gerade für Frauen wichtig, denn viele wissen nicht, dass der Unterhaltsanspruch für das gemeinsame Kind nur bei ein paar 100 Euro monatlich liegt. Gerade diejenigen, die nicht berufstätig sind oder waren, rutschen sie viel häufiger in die Armut ab als die Väter, die weiter beruflich aktiv geblieben sind.
Beim #FamBloggerCafe des Familienministeriums war ein breiter Querschnitt der Familienblogosphäre vertreten. In der Frage-Antwort-Runde mit Staatssekretär Dr. Kleindiek wurde eine große Vielfalt an Themen und Positionen sichtbar*. Hat die Familien- und Elternblogosphäre in deinen Augen das Zeug zur Lobby? *Das Spektrum reichte von Patchwork- und Regenbogenfamilien über Co-Parenting, Diskriminierung von {stillenden} Müttern am Arbeitsplatz {und anderswo} bis hin zu Hebammen und Betreuungsgerechtigkeit.
Als Journalistin, die noch zu arbeiten begonnen hat, bevor es das Internet – so wie wir es heute kennen und nutzen – gab, kann ich nur sagen: Ja, der Einfluss von Blogger/innen ist groß. Die Authentizität ist stärker als die im klassischen Journalismus, der stets an das jeweilige Medium und damit an eine gewisse politische Ausrichtung gebunden ist. Blogger/innen dagegen können frei sagen, was sie denken, sie müssen den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht entsprechen und können leichter neue Impulse setzen. Auch die Reichweite wächst stetig; darüber hinaus sind viele Blogger/innen gut untereinander vernetzt und nutzen diese Netzwerke gezielt.
Über das #-Prinzip finden sich viele Meinungen zu einem Thema bzw. können Kampagnen oder Diskussionen gestartet werden. Ein Beispiel dafür ist der #Aufschrei. So werden dringliche Probleme, die ansonsten unter der Oberfläche gären, plötzlich sichtbar und können in den entsprechenden politischen Gremien Beachtung finden – vielleicht sogar zu einer Modernisierung der Gesellschaft führen. Ich denke, hier liegt viel Potential, allerdings darf man es nicht überreizen und es muss authentisch bleiben, damit der Einfluss glaubwürdig bleibt.
„Für ALLE Familienmodelle gilt: Es kommt darauf an, was wir daraus machen.“ Und was für die Kinder am besten ist. Amen. Danke und liebste Grüße, Pia