Eine Erzähloffensive für Europa – oder: Wie rettet man die europäische Idee?

27. Juli 2016

Ein Gespräch mit Heiko Kretschmer {J+K}

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Europa und damit auch die Idee der offenen Gesellschaft ist gefährdet. Einer ihrer größten Widersacher ist der Nationalismus, der aktuell eine beängstigende Renaissance* erlebt. Ob Polen oder Dänemark, die Niederlande oder Frankreich, Großbritannien oder die Schweiz – in sämtlichen europäischen Staaten genießen rechtspopulistische Parteien regen Zulauf. Wohin sich die AfD entwickelt, ist ungewiss. Gewiss ist aber, dass die hiesige “Neue Rechte”, namentlich Götz Kubitschek und Marc Jongens, fleißig an einer neuen nationalistischen Erzählung „schreiben“.

Rechte Geschichte/n erzählen

Diese neue “Geschichte der deutschen Nation” soll, so das erklärte Ziel ihrer Verfasser, für weite Teile der Gesellschaft attraktiv sein. Nicht zuletzt darum suchen die “Autoren” – anders als im Rechtspopulismus üblich – ganz gezielt den Anschluss an den „Mainstream“: Historische Fakten und wissenschaftliche Tatsachen wie etwa der Holocaust sollen nicht geleugnet, sondern integriert werden. Denn nur so sei es zum Beispiel möglich, “weiterhin die heuchlerischen politischen Instrumentalisierungen des Holocaust kritisieren zu können.” Quelle

Was für mich eine unerträgliche Instrumentalisierung der Geschichte ist, nennt Jongens eine “avantgarde-konservative Position” – und ich fürchte, dass sie auf mehr Akzeptanz stößt als mir lieb ist. Was lässt sich der “Erzähloffensive von Rechts” entgegensetzen? Vielleicht eine neue Erzählung für das offene Europa? 

Diese und weitere Fragen habe ich mit Heiko Kretschmer, Kommunikationstratege und Geschäftsführer von Johanssen und Kretschmer, diskutiert.

*Weil: “Le nationalisme, c’est la guerre!” {François Mitterrand}

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Worin siehst du die größte Gefahr für die Idee des offenen Europas bzw. der offenen Gesellschaft?

Nun, zweifelsohne erleben wir aktuell einen Mehrfrontenkonflikt um Europa. Da sind die Kräfte des Nationalismus, Rassismus und des Chauvinismus, die wenig mit einem weltoffenen, toleranten Europa gemein haben und es daher in Frage stellen. Daneben muss man aber auch sehen, dass die europäischen Eliten es versäumt haben, die Menschen “mitzunehmen” und für das Projekt “Europa” zu begeistern. Sie haben sich allein um die schnelle Erweiterung und den institutionellen Ausbau gekümmert.

Hinzu kommt die europäische “Sparpolitik” (Austeritätspolitik), die vielerorts zu Verarmung und Verelendung geführt hat und für die vor allem Deutschland steht. Unter dem einseitigen Integrationskurs und dem “Spardiktat” konnten sich keine solidarischen Politikansätze etablieren. Heute müssen wir mit riesigen Rettungspaketen die Folgen dieser Politik bezahlen.


„Europa hat keine funktionierende Erzählung mehr. Mit der Einlösung des europäischen Versprechens auf eine friedliche Koexistenz war die Geschichte zu Ende erzählt.“

Heiko Kretschmer

Alle drei Probleme führen aber zum eigentlichen Punkt: Europa hat keine funktionierende Erzählung mehr. Der Ursprungsgedanke von einem Frieden in Europa, von einem friedlichen Zusammenleben auf dem Kontinent, der die meisten und brutalsten Kriege hervorgebracht hat, war eine immens starke Idee. Sie vereinte die Erbfeinde, die historischen Gegner, zwang sie in die friedliche Koexistenz und brachte sogar Freundschaften hervor.

Als die Idee von der friedlichen Koexistenz und einem Wachstum durch Kooperation jedoch ihren Höhepunkt erreicht hatte, kam sie zugleich an ihr Ende. Der Fall der Mauer, die Überwindung des kalten Kriegs, die Integration der mittelosteuropäischen Staaten in die EU sind Ausdruck und Ergebnis der enormen Kraft dieser Erzählung. Die Idee Europa hatte ihr Versprechen eingelöst. Damit aber war die Geschichte zu Ende erzählt.

Genau das spüren wir heute. Die Idee “Europa” trägt weder in der Auseinandersetzung mit nationalistischen Bewegungen, noch zwingt sie die europäische Elite zu mehr Bürgernähe oder ebnet den Weg zu solidarischen Politiken.

Wie erklärst du dir, dass Nationalismus, Rassismus und Chauvinismus für so viele Menschen (wieder) attraktiv sind?

Ich bin mir nicht sicher, ob das so neu ist. M.E. ist etwas anderes neu an der Situation: die Enttabuisierung bestimmter politischer Positionen. Erstmals schließen sich wieder nationalistische und rassistische Positionen mit einer radikalen Kritik des Bürgertums zusammen: Der “wütende weiße Mann” hat neuerdings kein Problem damit, dass seine Wut von rechtsextremen Kräften unterstützt wird. So verschmelzen bislang in sich geschlossene Echoräume miteinander. Gefördert wird das durch eine Negativerzählung, die das Vakuum der fehlenden Europa-Erzählung zu füllen versucht.


„Der ‚wütende weiße Mann‘ hat neuerdings kein Problem damit, dass seine Wut von rechtsextremen Kräften unterstützt wird.“


Hinzu kommt, dass es jahrelang versäumt wurde Cyber-Mobbing, verbale Beschimpfungen und Herabwürdigungen ausreichend zu ahnden. Dieses Versäumnis hat Cyper-Trolle dazu ermuntert, diese Verhaltensweisen auch in die Realwelt zu tragen, wie verschiedene Untersuchungen nahelegen. Das Verhalten des Mobs gegenüber Merkel, Maas oder Gauck spricht Bände.

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Wie müsste man die Geschichte des offenen Europas erzählen, damit es (wieder) attraktiv wird?

Tja, wenn das so einfach wäre, hätten wir diese Erzählung vermutlich schon. Aber wie wäre es denn, wenn sich die EU-Kommission dieser Frage einmal ernsthaft annähme?

Unter Barroso hatte die Kommission schon einmal die Erkenntnis, dass sie sich einer “Öffentlichkeitsarbeit” für Europa annehmen müsste. Daraus wurde dann jedoch eine merkwürdige Mischung aus Informationsangeboten und Marketingkampagnen, die beide der Leitfrage folgten: Wie überzeugen wir die Menschen, von dem was es gibt? Das ist m.E. die falsche Frage. Die richtige Frage muss lauten: Welche Erzählung kann die Menschen mitnehmen, wenn das was es gibt, nicht mehr trägt?

Würden die Verantwortlichen dieser Frage ernsthaft nachgehen, könnte das ein Projekt werden, das Europa wirklich voranbringt. Irgendwelche Workshops in Brüssel können das sicher nicht leisten. Man müsste die wichtigen Stakeholder der Europäischen Idee und die Bürger Europas so einbinden, dass sie sich und ihre Erwartungen einbringen können.

Das heißt, es müsste eine Art großangelegtes “Co-Writing”-Projekt werden, das jeder und jedem die Möglichkeit bietet, an der neuen Geschichte Europas mitzuschreiben? Und die Politik wäre dabei – um im Bilde zu bleiben – der Herausgeber, der den redaktionellen Rahmen absteckt?

Nein. Das kann meines Erachtens kein basisdemokratisches Projekt des Co-Writings sein. In dieser Angelegenheit erwarten die Menschen politische Führung. Für die Entwicklung einer neuen Erzählung ist es aber unabdingbar, dass die verantwortlichen Politiker zuhören und auf die Menschen eingehen.

Was verstehst du unter “politischer Führung”?

Um es einfach zu formulieren: Orientierung durch politische Entscheidungsträger/innen.

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Was erwarten die Menschen in Bezug auf ein neues Narrativ von der Politik?

Eine durchaus spannende Frage. Man kann sicherlich abstrakt beschreiben, was Menschen von einem Narrativ erwarten, damit sie es weitererzählen: So müssen sie sich davon angesprochen und darin aufgehoben fühlen. Sie müssen die Relevanz für das eigene Leben und das ihres jeweiligen Zuhörers erkennen. Doch was das konkret bedeutet, das müsste in eben einem solchen Projekt ermittelt werden.

Wer könnte/müsste die Geschichte erzählen?

Nun, das wesentliche einer Erzählung bzw. eines gesellschaftlichen Narrativs ist, dass diese Frage am Ende des Tages mit “jeder” beantwortet werden kann.

Ein Narrativ muss die Einfachheit besitzen, dass jeder es weiter erzählen kann. Ein Narrativ muss die Offenheit besitzen, dass jeder sich in seiner Rolle dazu in Beziehung setzen kann. Ein Narrativ muss aber auch die Verbindlichkeit und Klarheit besitzen, dass es sich nicht – wie beim Stille-Post-Spiel – beim Weitererzählen verändert.

Natürlich wird ein Narrativ nicht von jetzt auf gleich zu einer gesellschaftlichen Erzählung, die von und mit Jedermann erzählt wird. Anfangs wird es von einigen zentralen Akteuren aufgegriffen und weitererzählt. Entscheidend ist aber, dass es so begeisternd, so klar ist, dass die Geschichte immer weiter in die Gesellschaft getragen werden kann.


„Ein Narrativ muss die Einfachheit besitzen, dass jeder es weiter erzählen kann, die Offenheit, dass jeder sich dazu in Beziehung setzen kann und die Verbindlichkeit und Klarheit, dass es sich nicht – wie beim Stille-Post-Spiel – verändert.“


In der Vergangenheit wurde viel zu oft und viel zu ausschließlich nur an die Ratio und die Moral appelliert. Wie begeistert man?

Begeisterung erwächst aus Erfolgen und speist sich aus Hoffnungen und Chancen, die man gemeinsam realisieren will. Es bedarf also einer guten Zukunfterzählung im Sinne einer Skizze für das, was Europa bewegen kann und will.

Die klassischen Medien erreichen nur noch eine kleine Gruppe von Menschen. Der Rechtspopulismus nutzt vor allem die sozialen Medien (z.B. Youtube). Wo müsste die Geschichte Europas neu erzählt werden?

Auch da gilt: Der Ort oder der Kanal sind nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass die Idee oder Erzählung von möglichst vielen Akteuren aufgegriffen und von diesen authentisch weitererzählt wird. Das kann auch über die klassischen Kanäle laufen, wenn sie zu einem passen – Stichwort “Authentizität”.

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Alle Fotos (c) Das Progressive Zentrum {herzlichen Dank dafür!}

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