#mimasheimaturlaub: Als Touristin in der ‚Heimat‘. Teil I Celle

16. Oktober 2014
Zitat Arno Schmidt | gelesen in der Ausstellung ‚Arno Schmidt 100‚ | Bomann-Museum Celle | September 2014

Fünf Tage war ich – ich erwähnte es bereits – zu Besuch in der Landschaft meiner Kindheit und Stadt meiner Jugend. Das ist für sich genommen nicht so wahnsinnig ungewöhnlich, zumal wenn man dort Familie hat. Doch dieses Mal war ich nicht als Familienbesucherin, sondern als Touristin dort. Die Idee dazu entstand im Sommer. Ich war zu einer Feier eingeladen und konnte aufgrund eines unglücklichen Umstands nicht familiär unterkommen, musste also eine fremde Unterkunft nehmen. Dabei machte ich eine interessante Erfahrung: Jenseits der vertrauten vier Wände nahm ich plötzlich alles ganz anders wahr. Da konnte ich in der mir immer zu engen Kleinstadt plötzlich eine Weite erkennen und in der mich sonst erdrückenden Landschaft etwas Anregendes. Da ahnte ich plötzlich, warum man es hier aushalten, vielleicht sogar ein Zuhause finden kann. Dieser Erfahrung wollte ich weiter nachgehen. Umso mehr freute ich mich über die Einladung der Celle Tourismus und Marketing, zwei mal zwei Tage mit fremden Blick durch vertraute Gefilde zu flanieren.

Heute geht es um die erste Etappe meines ‚Heimaturlaubs‘: Celle. Die Residenzstadt an der Aller wird gemeinhin mit ihren Fachwerkhäusern und dem Barockschloss in Verbindung gebracht, mit Caroline Mathilde und höfischen Intrigen. Bei meinem kurzem Aufenthalt habe ich sie (auch) von einer ganz anderen Seite kennengelernt: Etwas versteckt ein Stückchen außerhalb des Innenstadtrings bzw. hinter den mittelalterlich-barocken Fassaden, zeigt sich Celle ist als wahres Kleinod moderner Architektur und zeitgenössischer Kunst. Dahinter stehen vor allem zwei Herren: der Architekt Otto Häsler (*1880 | †1962) und der Kunstsammler Robert Simon (*1946).
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Siedlung ‚Italienischer Garten‘ von Otto Häsler

Bauhaus-Stadt Celle
Der ‚Avantgardist in die Provinz‚ (TAZ), Otto Häsler, kam 1906 nach Celle, um sich als Architekt selbstständig zu machen und blieb 27 Jahre. Bis 1934 war der ‚bedeutendste Siedlungsarchitekt in Deutschland‚ in Celle tätig und hinterließ der Stadt ein umfangreiches architektonisches Erbe. Zu seinen Hauptwerken zählen u.a. die Glasschule [heute Alterstädter Schule], das Blumläger Feld, der Italienische Garten oder die Villa Steinberg – Bauhaus-Architektur vom Feinsten! Wer einmal auf den Spuren des ‚Provinz-Radikalen‚ (BauNetzWoche) wandeln will, findet bei der Otto-Häsler-Initiative einen Stadtplan mit seinen Werken.

Nicht verzeichnet ist darin das Café Kiess. Vielleicht weil nicht das ganze Haus, sondern nur die Inneneinrichtung von Häsler stammt. 1926 wurde er mit Umgestaltung der alten Baumkuchenfabrik zum Kaffeehaus beauftragt. Das Ergebnis ist – bis heute sichtbar – ein in Fachwerk gefasstes Bauhaus-Café mit den besten Plätzen der Stadt. Zwar seien die rot-gepolsterten Bänke laut Cosima Bellersen Quirini, Autorin des Buches ‚100 besondere Orte in Celle‘, ungefähr so bequem wie in einem Speisewagenabteil aus der Gründerzeit, dennoch sollte man unbedingt versuchen, ,sich einen Platz im ersten Stock […] zu ergattern, direkt am Fenster und mit Blick auf die Fachwerkhäuser rings um den Platz, welcher sich Ihnen hier mit dieser großartigen Kulisse bietet.‚ Dem kann ich nur beipflichten, wenngleich die schief hängenden Bilderrahmen und die Plüschgardinen mein Harmonieempfinden empfindlich stören. Doch darüber helfen ein ausgezeichneter Kaffee und ein Stück feinste Obsttorte locker hinweg.
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Kunststadt Celle
Der zweite Protagonist der ‚Celler Moderne‘ hat anders als Häsler nie in Celle gelebt, der Stadt aber ein Kunstmuseum verschafft: Robert Simon. 1998 initiierte der Hannoveraner Kunstsammler das erste ‚24-Stunden-Kunstmuseums der Welt‚, 2005 gründete er das Kunstmuseum Celle und brachte einen Großteil seiner Sammlung in dem gläsernen Neubau unter. Dazu gehören Werke von Dieter KriegBen Willikens sowie dem jüngst verstorbenen ZERO-Mitgründers und Lichtkünstler Otto Piene – dessen Werke kann man derzeit übrigens auch in der in der Berliner Nationalgalerie sehen. Daneben finden regelmäßig Ausstellungen statt und zeigen Lichtkunst aus aller Welt.  Ma haben Otto Pienes Lichtraum, Philipp Geists inBetween und Constantin Jaxys Scheinblüten besonders gut gefallen – mir auch.
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Constantin Jaxy | Scheinblüten | 2014

Direkt neben Kunstmuseum mit der Sammlung Robert Simon befindet sich das Bomann-Museum. 1892 wurde es als ‚Vaterländisches Museum‚ gegründet, heute zeigt es vor allem Regional- und Stadtgeschichte. Mit seinem begehbaren Bauernhaus aus dem 19. Jahrhundert und den vielen Anschauungsobjekten ist das Museum auch für Kinder attraktiv. Außerdem – und das hatte mich hierher geführt – beherbergt das Bomann-Museum eine der umfangreichsten Sammlungen des Malers und Grafikers Eberhard Schlotter (*1921 | †2014): rund 730 Ölgemälde und Aquarelle, über 4.000 graphische Arbeiten sowie zahlreiche Mappenwerke, bibliophile Ausgaben und illustrierte Texte. Doch davon war während meines Aufenthalts gerade nichts zu sehen. Dafür aber die eines guten Freunds von Schlotter: Arno Schmidt. Anlässlich dessen 100. Geburtstag präsentierte die Ausstellung Arno Schmidt 100 Exponate aus dem Leben und Werk des eigenwilligen Schriftstellers, zu dessen Grundstück ich als Kind von Ferne verstohlene Blicke warf und der mir nicht zuletzt als überzeugter Frühaufsteher sehr sympathisch ist:

„Ich stehe sehr zeitig auf. Um 3 Uhr muß ich; vor 3 darf ich.“ 
Arno Schmidt in ‚Vorläufiges zu Zettel’s Traum‚ 

Die aus meiner Sicht rundum gelungene Ausstellung der Arno-Schmidt-Stiftung ist leider vorbei; wer sich dennoch für den ‚grollenden Avantgardisten‚ (Dietmar Dath) interessiert oder interessieren lassen möchte, erfährt auf den Stiftungsseiten, was und wo derzeit etwas von ihm oder über ihn läuft (z.B. Theater in Berlin und eine bespielte Litfasssäule in Darmstadt).

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An der Aller

Neben hoher Kunst und moderner Architektur hat Celle natürlich auch für alle anderen Sinne, Lüste und Bedürfnisse etwas zu bieten:

Fürs leibliche Wohl
Die Stadt watet mit einer Reihe gastronomischer Einrichtungen auf. Vier davon kann ich guten Gewissens – weil selbst probiert – empfehlen:

  • Das Café Kiess habe ich bereits erwähnt (siehe oben). Hier gibt es neben schönen Aussichten auch guten Kuchen und Kaffee.
  • Das Kanzlei-Café in der gleichnamigen Straße lädt nicht nur zum leiblichen, sondern zum Lektürevergnügen ein. Neben süßen und salzigen Speisen finden sich in dem schlichten Kaffeehaus Wandzitate berühmter Dichter/innen und eine kleine Bücherei. Im Hinterhof gibt es einen schönen Garten.  
  • Zum Abendessen und/oder guten Wein kann ich den Weinkeller Postmeister von Hinüber empfehlen.
  • Vorzüglich speist man auch in Martas Restaurant. Hier wie dort (im Weinkeller) überzeugen sowohl Speisekarte als auch Ambiente – bekanntlich isst das Auge ja mit.

Fürs Ruhebedürfnis
Geschlafen haben wir im Hotel Celler Hof, dessen Fassade ebenfalls von Otto Häsler gestaltet wurde. Das war in seinen ersten Celler Jahren (1907) und ich bin mir nicht sicher, ob und was man davon heute noch sieht (weiß es vielleicht jemand?). Der Celler Hof ist weder ein Designhotel noch luxuriös ausgestattet, aber gepflegt, solide und zentral und mit dem wohl schönsten Hotelblick auf die Stadt. Das 1657 erbaute Haus liegt direkt gegenüber des Bomann– und des Kunstmuseum, linker Hand das Celler Schloss, rechter Hand die Stadtkirche und unterhalb des Fensters – immer Mittwochs und Samstags – der Wochenmarkt.

Andere Hotels findet man auf dem Stadtportal. Wer eine Ferienwohnung bevorzugt, dem kann ich das Gästehaus 1 A nahe der Innenstadt empfehlen: gute Lage, gemütliche Einrichtung, nette Vermieter/in und wunderschöner (!) Garten.
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Für die Kauflaune
Früher war Celle ob seiner vielen Boutiquen eine beliebte Einkaufsstadt. Da fuhr man sogar von Hannover nach Celle (und nicht umgekehrt), um durch die Fußgängerzone zu ‚bummeln‘. Zwischenzeitlich drohte das Ladensterben dem ‚Bummelparadies‘ den Garaus zu machen, doch in den letzten Jahren konnten sich neben großen Ketten auch wieder kleine Läden etablieren. (M)Eine kleine Auswahl:

  • Huths Kaffee & Feinkost ist Celles ältestes Geschäft. 1851 als ‚Colonial- und Materialwarengeschäft‘ gegründet, wird hier seit über 100 Jahren Kaffee geröstet und feinste Kost verkauft. 
  • Ein paar Meter entfernt liegt der Zapfhahn, wo man sich nach Belieben Essige, Öle oder Spirituosen zapfen lassen kann.
  • Wer gerne kocht, sollte unbedingt im Celler Gewürzkontor vorbeischauen. Allein die vielen Pfeffersorten sind einen Besuch wert.
  • Handarbeiter/innen finden bei Bosse in der Zöllner Straße Wolle aller Arten.
  • Selbstgeschneiderte Kinderkleidung und allerlei anderen hübschen Kinderkram findet man im Pour la Vie.  
  • Schönes Holz- und Blechspielzeug gibt es unweit im SpielzeugLand
  • Auf dem Weg vom einen zum anderen ‚Kinderladen‘ liegt das Gajah [indon. Elefant], dessen Sortiment Wohnaccessoires und mehr aus Indonesien, Thailand, Indien, Marokko etc. enthält.
  • Auf dem Weg zur Pfennigbrücke liegt die Keramikwerkstatt Annette Dannhus, deren Arbeiten mich als Jugendliche kurzzeitig mit dem Gedanken spielen ließen, eine Keramikausbildung zu beginnen und mir heute gut gefallen.

Fürs kulturelle Verlangen
Wem Bauhaus-Architektur und zeitgenössische Kunst weniger zugesagt bzw. nicht ausreicht, um das kulturelle Verlangen zu stillen, bietet Celle diverse Alternativen:

  • Die CD-Kaserne ist eines der größten Jugend- und Veranstaltungszentren Norddeutschlands und hat bekannte Namen im Programm wie Alin Coen, Vladimir Kaminer oder Reiner Kröhnert.
  • Das Celler Schlosstheater hat einen neuen Intendanten. Andreas Döring setzt auf zeitgenössisches, relevantes und anregendes sowie junges Theater. 
  • Das achteinhalb macht Programmkino at it´s best.
  • Die Kammerlichtspiele bringen die Blockbuster.
  • Kunst und Bühne ist ein Ort der so genannten Kleinkunst von Kabarett über Figurentheater bis hin zum Chanson. 
  • Wer etwas über Celle im Nationalsozialismus erfahren möchte, empfehle ich einen historischen Rundgang durch die Stadt.
  • In die Welt der Welfen führt das Residenzmuseum im Celler Schloss.



Für den Bewegungshunger
Bewegungshungrigen empfehle ich …

Soviel von meiner Seite zu guten Orten in und spannenden Seiten von Celle. Der nächste Beitrag dreht sich um die Landschaft meiner Kindheit, die Südheide. Wenn ihr weitere Tipps und Empfehlungen in Celle habt, freue ich mich über entsprechende Kommentare.
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Celle. Die Stadt meiner Jugend.

8 Comments

  • Philipp Krause
    6 Jahren ago

    Sehr schön !!!

  • Anonym
    10 Jahren ago

    Genau so sehe ich Celle. Jeden Tag was neues zu entdecken. Celle ist einfach schön!

  • 10 Jahren ago

    Die Wärme meiner Erinnerungen an einen eintägigen Besuch in den 90ern ist gleich wieder da…, sollte ich noch mal….? Sehr informativ! Lieben Gruß Ghislana

  • 10 Jahren ago

    So ein schöner Bericht! Mit Celle hab ich bisher immer nur verbunden, dass ich da mit 13 von einer Klassenfahrt geflogen bin, weil ich abends im "Jungenszimmer" gitarrespielend auf ner Bettkante gehockt habe ;-))
    liebe Grüße
    Barbara

  • 10 Jahren ago

    Guten Morgen, liebe Indre, wie schön auch die Stadt meiner Jugend durch Deine Augen zu sehen. Vieles kenne ich, anderes ist auch für mich neu. Viele Grüße, Viola

  • 10 Jahren ago

    ja, die kammerlichtspiele! da war ich ziemlich oft "früher" 😉
    bestimmt warst du auch in bargfeld, oder?
    lg doro

    • 10 Jahren ago

      ja, dort war ich. allerdings das letzte mal. nicht in diesen tagen. lg i

  • 10 Jahren ago

    Herzlichen Dank für diesen informativen "Rundgang" durch deine Heimatstadt. Ich denke, nun muss ich da auch mal hin…;-) LG Lotta.

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