Fotos: André Kirchner |
André Kirchner. Ein Name, ein Kontakt, der mir im Zuge meiner Recherchen zur Bülowstraße 90 zugerufen wird. Er habe dort ein paar Jahre gelebt und könne mir vielleicht mit seinen Erinnerungen weiterhelfen. Obgleich wir im selben Kiez wohnen, nur wenige Häuser voneinander entfernt, bin ich ihm noch nie begegnet. Wir sind in seinem Atelier verabredet. Bevor ich losgehe, schaue ich mir noch schnell seine Website an. Menschenleere Stadtansichten. Steinerne Momente, die in formaler Strenge aus dem Berliner Leben erzählen: Eine Curry-Bude vor der Neuen Kirche bringt die Westberliner Mentalität in einem Bild auf den Punkt. Ein einsamer Trabbi vor einem vermauerten Industriegebäude im grellen Sommerlicht erinnert daran, dass die Planwirtschaft zwar am Ende, aber die Zukunft noch offen ist, damals, knapp eineinhalb Jahre nach der Wende.
Erster Hinterhof, Seitenflügel, Erdgeschoss. Ich bin neugierig und laufe erst einmal weiter. Im zweiten Hinterhof steht die alte Seifenfabrik von L. Carpentier aus dem Jahre 1880. Seife wird hier schon lange nicht mehr hergestellt. Stattdessen findet man hier die Berliner Mischung aus kreativem Kleingewerbe und kleinen Handwerksbetrieben. Ich klingle. Es summt. Ein typischer Treppenaufgang. André Kirchner öffnet – und ich falle direkt mit der Tür aus der Zeit.
Das Atelier ist eine Zeitmaschine, ein Prisma, in dem sich die vergangenen Jahrzehnte brechen. Da steht das Sofa aus der Bauhaus-Ära. ‚Ich hatte es schon oft für viel Geld verkaufen können‘, erwidert Kirchner meinen neugierigen Blick. Ein Architektensofa, von dem tatsächlich mehrere hergestellt wurden. Kein Prototyp, wie ich zunächst annehme. Gegenüber ein Gründerzeit-Tisch mit Gaststättenstühlen aus der Jugendstil-Epoche; Schubladenschränke aus den 1930er Jahren und Kisten und Koffer aus allen Zeiten. Er bittet mich in seinen Arbeitsraum und bietet mir ein Glas Wasser an. Umgeben schwarzen Aktenordnern nehmen wir am schweren, blauen Schreibtisch Platz, der früher einmal im Ullsteinhaus stand. Warum ich M i MA ‚Lifestyle-Blog‚ nenne, fragt er mit offenkundigem Unbehagen.
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Foto: André Kirchner |
André Kirchner ist in München aufgewachsen, und führt bis heute eine gepflegte Hassliebe zu seiner ‚Heimatstadt‘. ‚München, das war purer ‚Lifestyle‘. Da ging es nur ums schöner Wohnen, ums schöner Kleiden, schöner Saufen, schöner Fressen… Ich bin fast erstickt. Mein Leben begann eigentlich erst mit der Entscheidung nach Berlin zu gehen.‚ Die Entscheidung fällt 1979 nach seinem ersten Berlinbesuch. 1981 ist es dann soweit. Seine erste Unterkunft liegt in Neukölln. Doch was er dort vorfindet, ist nicht das, wonach er sucht. In Neukölln gibt es, wie Johannes Groschupf in seinem Buch Hinterhofhelden schreibt, ‚keine Punks mit zerrissenen Hosen und wild geschminkten Gesichtern, kaum Drogenjunkies, keine jungen Strichmädchen, keine Hausbesetzer – in Neukölln regierte der Berliner Kleinbürgerton. Disziplin, Ordnung, Sauberkeit. Man achtete auf gute Manieren.‘ (Quelle) André zieht kurzerhand nach Schöneberg, das damals noch wild und gefährlich ist. ‚Es gab damals nur Kreuzberg oder Schöneberg. Alles andere war Spießer- oder Kleinbürgertum.‘ Für 140 Mark mietet er eine Wohnung in der Helmstraße: Hinterhof, Ofenheizung, Außenklo. Anfangs fährt er noch jeden Tag nach Dahlem, um sein Studium der Alt-Philologie und Philosophie fortzusetzen. Doch nach kurzer Zeit hat er genug von all der Theorie und stürzt sich mitten in die ‚Praxis‘.
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Ende der 1960er Jahre hatte der Berliner Senat damit begonnen, ganze Stadtviertel abreissen zu lassen. Die alte Blockbebauung soll der modernen Autostadt weichen. Altbauten stehen leer und verfallen, während der Wohnungsmangel immer größer wird. Spekulationen treiben die Mieten in die Höhe. Langsam formiert sich Widerstand: Junge Menschen besetzen die Gründerzeithäuser. 1981 sind 157 Häuser in Berlin besetzt, darunter allein 45 in Schöneberg. André Kirchner bezieht im März 1981 das Haus in Potsdamer Straße 157/159. Das Hinterhaus ist bereits abgerissen, der Seitenflügel halb abgebrochen, alle Öfen und Rohrleitungen sind zerschlagen. ‚Das wurde immer als erstes gemacht, damit die Häuser unbewohnbar waren‘, erzählt André. Er und seine Mitstreiter/innen stellen das Haus nach und nach wieder her, im Erdgeschoss eröffnen sie die legendäre Kneipe K.O.B. Wofür die Abkürzung steht, weiß bis heute niemand so genau: Kontaktbereichsbeamter, Kaffee ohne Bedienung, Kabuff obdachloser Bayern. Es gibt viele Varianten. Neben dem K.O.B., in einer ehemaligen winzig-kleinen Dönerbude, richtet Lucy Weisshaupt, genannt Penny, ihren Penny Lane Frisörsalon ein. Während sie mit Cassia Hecker, Sängerin der hauseigenen Band ‚MannaMaschine‚, jungen Punkerinnen wahlweise Kopf- oder Schamhaare frisiert oder Merve-Verleger Peter Gente das Gesicht mit Gurkenmaske erfrischt, schlürfen ihre Gäste selbst gemixte Pilzcocktails zu kreischend-schräger Live-Musik. (Quelle: Wolfgang Müller: Subkultur Westberlin 1979 bis 1989)
‚Wir waren eine schräge Truppe‘, erinnert Kirchner. ‚Ich war ganz sicher der einzige von uns, der Homer im Original las.‘ Da sind Punks, Ausreißer/innen, Künstler/innen und Junkies. Nicht wenige von ihnen verlieren sich irgendwann auf der Suche nach dem ‚echten Leben‘. Cassia Hecker und zwei andere Bewohner begehen Selbstmord, ein vierter sprengt beinah das Haus in die Luft, beim Versuch sein Aufmerksamkeitsdefizit auszugleichen. Aber so ist es eben das ‚echte Leben‘ – alles andere als hübsch. ‚Es war knallhart‘, erinnert sich André. Seit den 1970er Jahren tobt rund um die Potsdamer Straße der Bandenkrieg. Deutsche, türkische und arabische Gruppen kämpfen um die Vormachtstellung; es geht um Drogen, Glücksspiel, Waffen und Prostitution. (Quelle) ‚Schlägereien und Schießereien auf offener Straße gehörten zu unserem Alltag.‘ Dagegen ist die Potsdamer Straße heute ein Ponyhof.
‚Wir waren eine schräge Truppe‘, erinnert Kirchner. ‚Ich war ganz sicher der einzige von uns, der Homer im Original las.‘ Da sind Punks, Ausreißer/innen, Künstler/innen und Junkies. Nicht wenige von ihnen verlieren sich irgendwann auf der Suche nach dem ‚echten Leben‘. Cassia Hecker und zwei andere Bewohner begehen Selbstmord, ein vierter sprengt beinah das Haus in die Luft, beim Versuch sein Aufmerksamkeitsdefizit auszugleichen. Aber so ist es eben das ‚echte Leben‘ – alles andere als hübsch. ‚Es war knallhart‘, erinnert sich André. Seit den 1970er Jahren tobt rund um die Potsdamer Straße der Bandenkrieg. Deutsche, türkische und arabische Gruppen kämpfen um die Vormachtstellung; es geht um Drogen, Glücksspiel, Waffen und Prostitution. (Quelle) ‚Schlägereien und Schießereien auf offener Straße gehörten zu unserem Alltag.‘ Dagegen ist die Potsdamer Straße heute ein Ponyhof.
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Nur wenige Monate nach der Besetzung im März 1981 verkündet der Berliner Senat die Räumung der ‚Potse 157/159‘. Es geht um Alles oder Nichts, Verhandeln oder Hartbleiben. André ist fürs Hartbleiben. Doch die Mehrheit der Bewohner/innen spricht sich für Verhandlungen aus. André zieht aus. Heute, sagt er, würde er wahrscheinlich anders handeln: ‚Die Geschichte hat ihnen recht gegeben. Ohne die Verhandlungen würde das Haus heute nicht mehr existieren.‘ In den kommenden Jahren führt André Kirchner ein unstetes Leben. Er kommt mal bei Freund/innen, mal zur Zwischenmiete unter – und entdeckt seine Kamera neu. Schon als Jugendlicher unternahm er erste Fotoversuche; in der Potse 157/158 hatte er sich eine provisorische Dunkelkammer eingerichtet – auf einem roten Barhocker aus dem K.O.B. vergrößerte er Negative. Jetzt wird aus der Passion eine Profession. 1984 belegt André Kirchner mehrere Kurse an der legendären Werkstatt für Fotografie an der VHS Kreuzberg und kommt erstmals mit der Autorenfotografie in Berührung. Seine Bilder entwickelt er in der Bülowstraße 90. Dort hat der Fotograf Armin Okulla im Berliner Zimmer in eine Dunkelkammer eingerichtet. Als nach wenigen Monaten ein Zimmer in der Vierer-WG frei wird, zieht André ein. Er lebt und arbeitet rund drei Jahre in der großen Wohnung im Vorderhaus Hochparterre, und wird 1987 mit wenig Erinnerungen ausziehen. ‚Ich habe mich voll und ganz auf meine Fotografie konzentriert, und wenig vom Drumherum mitbekommen.‘
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1986 kann er seine erste Ausstellung feiern. Unter dem Titel HIER UND DORT — Europäische Stadtlandschaften 1982-85 zeigt die Neuköllner Galerie im Körnerpark seine Arbeiten. Doch zum Durchbruch kommt es nicht. ‚Danach passierte erst einmal nichts.‘ André Kirchner fotografiert weiter, trägt Briefe aus, arbeitet in der Nachtexpedition des Tagesspiegels, lebt von der Hand in den Mund, und hat Westberlin langsam satt. ‚Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt‘ hängt am Tropf der Berlinförderung, die Szene ist in sich zerstritten und betäubt sich mit Alkohol und Drogen, die Kultur- und Kunstelite schmort im eigenen Saft – Westberlin droht an sich selbst zu ersticken. André Kirchner spielt – wie viele andere – mit dem Gedanken fortzugehen. In Ermangelung von Ideen kommt es jedoch nicht dazu. 1989 fällt die Mauer – und von heute auf morgen ist alles anders.
‚Plötzlich stand dieses dunkle, geheimnisvolle Land mit all seinen Kulturschätzen und den unbekannten Städten offen.‘ André Kirchner streift tagelang durch Ostberlin und fotografiert die fast menschenleere Stadt. ‚Die waren alle in den Westen gefahren.‘ Während er aus dem Staunen nicht herauskommt, beginnen andere mit dem Ausverkauf der DDR. Parallel wächst das Interesse an Bildern aus dem fremden Deutschland. André stellt aus, verkauft, erhält Auszeichnungen und Stipendien. Die Hochphase dauert bis Ende der 1990er an; dann versiegt das Interesse und weicht einem Ost-Überdruss, den André unmittelbar zu spüren bekommt. Die Nachfrage seinen Bildern bricht ein, die Stipendien bleiben aus. ‚Ich stand erneut an einem Wendepunkt und wusste nicht recht wie weiter.‘ Er kümmert sich um seine drei kleinen Kinder, schmeißt den Haushalt, während seine Frau – die er in seinen Besetzer-Zeiten kennenlernt – das Familieneinkommen sichert. ‚Sie hat was ‚Richtiges‘ studiert‘, sagt André Kirchner mit einem Lächeln. Die Diplomingenieurin für technischen Umweltschutz ist es schließlich auch, die ihm den berühmten A-Tritt verpasst: So ginge es nicht weiter, er müsse sich neu orientieren. Und so wird der überzeugte Autorenfotograf schließlich doch zum Auftragsfotografen. Er fotografiert Baustellen für Architekturbüros und Planer, und dokumentiert Stadtentwicklungen für Museen und Archive. Parallel beginnt er Fotokurse anzubieten und sein Fotolabor kommerziell zu nutzen. Bis heute sind das die drei Standbeine, mit denen er seine freien Arbeiten quersubventioniert. Wir sind zurück im Hier und Jetzt.
André wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. Er müsse gleich nach Hause. Sein Sohn komme von einem Zeltlager zurück. Das ‚echte Leben‘ sieht heute deutlich ruhiger aus – fast hübsch. So wie Schöneberg, der Bezirk, den André Kirchner nie verlassen hat und von dem er auf meine Nachfrage sagt: ‚Schöneberg ist mein Berlin! Hier habe ich zu leben begonnen, hier spielen all meine Erinnerungen.‘
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André Kirchner stellt im Herbst 2014 in der Kommunalen Galerie Wilmersdorf aus. Die Ausstellung dreht sich um das Hotel Bogota. Das Hotel, das für viele Künstler/innen ein zweites Zuhause und in Berlin eine Institution war, musste 2013 schließen. André Kirchner und andere Fotograf/innen haben es vor der Räumung ein letztes Mal besucht.
HOTEL BOGOTA – Ende 2013
Hohenzollerndamm 176 | 10713 Berlin
30. Oktober bis 30. November 2014
Eröffnung 30. Oktober 2014 um 18 Uhr
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Danke für das echte Leben und die Menschen die davon erzählen. Ich mag es sehr viel lieber lesen als das ewige "Wir-machen-uns-das-Leben-für-die-anderen-Menschen-schön". Danke für eine tolle Schöneberg-Reihe!
Ich liebe mein Berlin. So wie es mal war. Dein Bericht hat bei mir ein paar Erinnerungen heraus gekramt.
Ja, wenn man dieser Stadt einmal verfallenen ist, kommt man nicht unbedingt wieder los.
Ich war zu der Zeit der HausBesetzungen in Schöneberg in der Schule. Und hatte teilweise einen Logenplatz, wenn es um "Verhandlungen" der Häuser ging. Und die gingen nicht immer rauchfrei aus.
Liebe Grüße
Andrea
ups…kommentar weg oder jetzt doppelt? nochmal.
der beitrag ist interessant, informativ und toll geschrieben! mehr berliner geschichten, bitte ��
den begriff lifestyle blog hab ich mir allerdings auch schon versucht, zu erklären.
viele grüsse, anja