M i MAs Kladden: Das Großlabor für Lebenskunst. Portrait einer Region: das Wendland

10. Juli 2014

Heute versuche ich mich nicht an einer Person; diese Kladde handelt von einer Region. Dem niedersächsischen Wendland. Seit ich das Experiment Landleben hier vor vielen Jahr erfolglos abbrach, hat er mich nie mehr ganz losgelassen, dieser kleine Landstrich im Grenzbereich von Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt. Und damit bin ich nicht allein. Ich kenne eine ganze Reihe von Menschen, die ihn – nicht im immer Guten – verließen und doch immer wiederkehren (müssen). Es geht eine Faszination und Magie von diesem Fleckchen Erde aus, die man schwer erklären kann. Die heutige Kladde ist ein Versuch.
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Zur Physiognomie eines Landstrichs
Der geografische Kern des Hannoverschen Wendlands ist der Landkreis Lüchow-Dannenberg. Sein Autokennzeichen lautet DAN; während meiner Fahrschulzeiten lernte ich: ‚Siehst du DAN, fahr rechts ran.‘ Die Dichte der Verkehrseinrichtungen liegt noch unterhalb der der Bevölkerung, und die liegt bei einer Person pro Quadratkilometer. Gefühlt gibt es im Landkreis drei Ampelkreuzungen und eine Schranke; der Rest ist freie Wildbahn. Das prägt. Doch nicht nur sein Fahrstil ist einzigartig, auch seine ‚Physiognomie‘. In diesem Restzipfel von Niedersachsen gibt es die meisten noch erhaltenen Rundlinge: tortenförmig gebaute Dörfer, die so klangvolle (slawische) Namen tragen wie Salderatzen, Diahren, Mammoißel, Meuchefitz oder Satemin. Eingekeilt von drei neuen Bundesländern war der Landstrich bis zum Mauerfall so genanntes ‚Zonenrandgebiet‘ – und damit Spielball der Ost-Westpolitik. Wirtschaftlich abgehängt und dünn besiedelt schien er die perfekte Antwort auf das ostdeutsche Endlager Morsleben und die Frage ‚Wohin mit dem westdeutschen Atommüll?‚. Seit den 1970er Jahren ist das Wendland daher im fragwürdigen Besitz des bundesweit einzigen ‚Atommülllagers‚.

Die Anlage in der östlichen Gemeinde Gorleben besteht aus einem Transportbehälterlager (das sog. Castor-Lager), der Pilot-Konditionierungsanlage, einem Abfalllager und dem Erkundungsbergwerk im Salzstock. Der Widerstand gegen diese Projekte hat die Kultur und Identität des Wendlands geprägt. Die allerorts gelbleuchtenden Xe (sie sind Teil des 1996 gegründeten und derzeit ruhenden Kampagnennetzwerks X-tausendmal-quer) sind nur der äußere Ausdruck dessen, was das Wendland im Innersten zusammenhält. Mit dem (vorläufigen) Aus für den Endlager-Standort beginnt der Kitt zu bröckeln; die Gegensätze, Widersprüche und Konflikte werden sichtbarer. Doch der erwartete ‚Kulturverfall‘ ist bisher nicht eingetreten. Das Wendland erfindet sich noch einmal neu – als Großlabor für Lebenskunst.
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Im Großlabor für Lebenskunst
Das Wendland ist eine Art Anachronismus und ein Landstrich, den man nicht richtig versteht‘, schreibt die Weibblick-Autorin Simone in ihrem Artikel Wendland – Synonym für alternatives Leben, und ich kann ihr nur beipflichten. Wirtschaftlich unterentwickelt, infrastrukturschwach, alternd und weltanschaulich zersplittert, fragt man sich, wie das (Zusammen-)Leben dort eigentlich funktionieren kann. Doch: Es funktioniert. Das zeigt – in eindrucksvoller Weise – die Kulturelle Landpartie (KLP). Während dieses wohl größten Kultur-Events im ländlichen Raum stellt das Wendland nicht nur die Vielfalt seiner künstlerisch-kreativen und landwirtschaftlich-gärtnerischen Erzeugnisse aus; zwischen Himmelfahrt und Pfingsten öffnet es auch seine Labortüren und gibt den Blick frei auf die Versuchsapparate und -anordnungen. Wobei – das Bild der Hexenküche trifft es vielleicht besser, denn aufgeräumt, geordnet und steril geht´s hier weniger zu.

Gleich zwei lange Wochenenden war ich mittendrin in dieser ‚Hexenküche‘ und konnte tiefere Einblicke in die Geheimnisse der wendländischen Lebenskunst gewinnen (Fotodokumentation). Der Widerstand und seine Geschichte spielen darin eine wichtige, nicht aber die wichtigste Rolle. Er ist eine Art Ursprungsmythos und damit identitäts- und gemeinschaftsstiftend – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Was die Menschen und den Landstrich prägt, sind vielmehr die Gegensätze und Extreme: Spießertum und Avantgarde, Esoterik und Weltoffenheit, Atheismus und Spiritualität, Dilettantismus und Professionalität, Improvisation und Perfektion, Ökofreak und Umweltsau, Anspruch und Wirklichkeit. Aus solcher Gegensätzlichkeit erwächst ein ganz eigener Realismus: ein zutiefst pragmatischer. Oder man wird verrückt daran. Auch das kommt vor.
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Eins plus Eins gleich Neun. Oder das Hexeneinmaleins
Treffen Bärbel und Heiko* mit Kind und Kegel zusammen, macht eins plus eins gleich neun: Er bringt vier Kinder von drei Ex-Frauen, sie fünf Kinder von einem Ex-Mann mit. Damit zählt sie in jeder Hinsicht zu einer wendländischen Minderheit, denn hier hat man in der Regel wenige Kinder von einem Partner oder viele Kinder von vielen Partnern. Das kann etwas über Einstellungen und Haltungen zu tradierten Familien- und Beziehungsmodellen aussagen. Muss aber nicht. Häufig ist die Anzahl der Kinder und (Ex-)Partner/innen einfach das Ergebnis eines Beziehungsexperiments, von dem sich nicht eindeutig sagen lässt, ob es nun geglückt oder gescheitert ist oder weder noch. Das ist eine Frage der Perspektive und des eigenen Anspruchs an Dauer und Intensität einer menschlichen Begegnung. Dauerhaft intensiv glückt seltener.

Eine Frage der Perspektive ist auch die nach dem gutes Leben. Anne und Arne* haben ihre Antwort gefunden. Vor rund 10 Jahren hat das Ehepaar eine heruntergekommene Jugendherberge aufgekauft und mit ebenso viel Idealismus wie Realismus wieder aufgebaut. Heute zählt die Begegnungsstätte zu den beliebtesten Zielen überwiegend jugendlicher Reisegruppen. Das Leitbild der Nachhaltigkeit steht den Eltern dreier Kinder bei all ihrem Tun Pate – im vollen Bewusstsein seiner Grenzen. Einen Großteil ihrer Einnahmen re-investieren sie in den ökologisch und sozialverantwortlichen Ausbau der Anlage, doch allein von regenerativen Energien lässt sich das 1 Hektar große Areal (noch) nicht am Laufen halten. Auch die ökonomische Dimension der Nachhaltigkeit hinkt ein wenig hinterher. Reich wird man auf diese Weise nicht. Zumindest nicht in materieller Hinsicht. Doch darum geht es Anne und Arne auch nicht. Geld ist für sie – wie für viele andere hier – das, was es jenseits aller Symbolik ist: ein Tausch- und Zahlungsmittel. Und als solches langt es allemal für ein gutes Leben zwischen Menschen, Feldern, Wald und Wiesen.
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Für Christian* ist ein gutes Leben, ein Leben das ihm Zeit und Raum für seine Leidenschaft lässt: der Kyber-Elektronik. Seit er vor einigen Jahren das Zirkusleben beendete – seine Wohnung, ein ausgebauter Bauwagen, ist die letzte Reminiszenz an die Wanderjahre –, beschäftigt sich der gelernte Zahntechniker mit dem Erbe des Erfinders, Physikers und Elektronikpioniers Nikola Tesla. Ende des 19. Jahrhundert entdeckte das fünfte Kind serbischstämmiger Eltern das Prinzip des Zweiphasenwechselstroms und erträumte schon vor 120 Jahren das W-LAN. Christian hat die Spur dieses eigensinnigen Visionärs aufgenommen. Auf der Suche nach ‚freier Energie‘ und den Möglichkeiten drahtloser Energieübertragung bringt er Magnete zum Schwingen und Drähte zum Glühen. Dabei kann ihm – wie seinem Mentor – schon mal das ein oder andere Experiment um die Ohren fliegen. Doch aus Fehlern wird man eben klug.

Das weiß niemand besser als Bärbel. Mit ihrem Traum vom glücklichen Familienleben ist sie grandios gescheitert. Rund 13 Jahre hat sie laboriert und experimentiert, sich ge- und verbogen bis sie schließlich einsah, dass aus den ‚Zutaten‘ kein Glück zu backen ist. Es braucht Mut – wahrscheinlich den Mut der Verzweiflung – mit fünf Kindern allein von vorne zu beginnen, doch es hat sich gelohnt. Ich kenne sie seit gut 20 Jahren; heute erinnert nicht mehr viel an die ungelernte Hausfrau und Vollzeit-Mutter, die sich bei ihrem Familienexperiment bisweilen in Luft auflöste. Wer Bärbel heute begegnet, erlebt eine lebensfrohe Frau, die mit beiden Füßen auf dem Boden steht und sich und anderen als gelernte Kunst- und Kreativtherapeutin neue Wege und Möglichkeiten erschließt.
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Es geht auch anders. Oder die Moral von der Geschicht´
Meine Beziehung zum Wendland ist und bleibt gespalten. Ich bin immer wieder gern dort; doch zu viel Nähe ertrag ich nicht. Dann wird´s mir zu eng und gleichzeitig zu weit – hier kann ich nicht unerkannt und autofrei von A nach B gelangen. Mir fehlt die quirlige Vielfalt und Hektik Berlins, in der man sich so leicht verlieren kann (hier fällt man schnell mal auf sich selbst zurück). Und doch will ich es nicht missen. Dieses Großlabor für Lebenskunst erinnert mich stets daran, dass viele Wege zu einem guten Leben führen und rückt so manchen Anspruch ins rechte Lot. 

*Alle Namen habe ich mit Rücksicht auf die Personen geändert.

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