Der Gewerbehof Rigaer Straße 71-73A im Frühsommer 2013. Hier soll bis 2017 ein Neubauquartier entstehen. Viele der „Altnutzer/innen“ müssen dafür weichen. |
Wer hier kauft, kauft Ärger stand in krakeligen Lettern auf dem Bauschild, dort, wo einst das Institut für Krimskrams auf sich aufmerksam machte. Ich wollte es am Freitag fotografieren. Aber es war nicht mehr da. Vielleicht hat man es lieber entfernt, um potenzielle Käufer/innen nicht zu irritieren.
Grund zur Irritation gäbe es, denn im Samariterkiez brodelt es. Seit 2009 ist der verhältnismäßig kleine Kiez um rund 2.000 Neubewohner/innen angewachsen – allein in unserem Haus leben rund 350 Leute im Alter von 0 bis 70 Jahren, und es ist nur eines von geschätzt 20 Neubauprojekten (wobei viele meiner neuen Nachbar/innen schon vorher hier gewohnt haben). Das bringt Spannungen mit sich, nicht zuletzt da mit diesen „Neuen“ viel „Altes“ verschwindet: Leute, Läden und Lücken, günstiger Wohn- und öffentlicher Freiraum, lieb gewonnene Gewohnheiten und schöne Selbstverständlichkeiten.
Ich bin eine dieser „Neuen“ und mir liegt viel daran, dass das „Sozialexperiment Samariterkiez“ gelingt. Ein erster Schritt dazu ist m.E. das Zuhören. Wie erleben die „Altbewohner/innen“ den Zuzug und die damit verbundenen Veränderungen? Was macht es mit ihnen und ihrem „Heimatgefühl“? Was erwarten oder wünschen sie sich von den „Neuen“? Das und anderes habe ich die GROSSEN KÖPFE gefragt. Sie leben mehr als 10 Jahre im Kiez, und da wo sie einmal ins Weite blickten, sehen sie heute ihr Spiegelbild in der gläsernen Neubaufassade.
Oben: 2013 sehen die GROSSEN KÖPFE noch ins Grüne. | Unten: Seit 2015 spiegeln sie sich in der gläsernen Neubaufassade. |
Geht das Experiment gut? Wo seht ihr die größten Herausforderungen und was können wir daraus für die Integration allgemein lernen?
ALU: Das der Kiez voller wird, dafür brauche ich keine Statistiken. Ich sehe und spüre es täglich bei meinen Spaziergängen. Wo ich früher „schnell“ mal was einholen war, bilden sich heute Schlangen. Für einen Kaffee muss ich mich inzwischen anstellen. Die Läden und die Händler beginnen sich diesen neuen Massen anzupassen. Ein neuer Pizzaladen hier, ein weiterer Bäcker da. Ich empfinde das persönlich gar nicht als Experiment, sondern eher als gemeinsames Projekt mit verschiedenen Entwicklungsstufen. Für mich persönlich sind die größten Herausforderungen der neue Lärm. Alles ist lauter geworden. Unsere Straße (früher nur einseitig bebaut) funktioniert wie ein Lärmtrichter, wirklich laut.
Konsti: Ich denke, allein in unserem Kiez sind es gut 2.000 neue Menschen. Ich bin zwiegespalten. Es sind subjektive Dinge, wie: Es ist lauter geworden, voller und es gibt kaum noch verwunschene Ecken. Ich frage mich auch, wo die typischen Berliner alten Menschen (i.S.v. Senioren) sind, neben denen ich noch groß wurde und was das für Menschen sind, die sich diese Preise leisten können*. In vielen Bereichen meines Lebens treffe ich auf Menschen, die keine Ahnung von Berlin haben, aber nun da sind. Das ent-heimatet mich.
*In unserem Haus wohnen viele ziemlich nette und „normale“ Leute. Viele Familien mit kleinen Kindern, aber auch kinderlose Paare und einige Singles. Erstaunlich viele Kreative sind darunter: Fotograf/innen, Blogger/innen, Designer/innen, Schaupieler/innen, Kommunikationsberater/innen etc., einige Professor/innen, Jurist/innen, Ministerial- und wissenschaftliche Mitarbeiter/innen. Fast alle leben schon lange in Berlin, viele in Friedrichshain, einige auch hier im Kiez und nicht wenige sind sogar „echte“ (Ost-)Berliner/innen.
Das Café Orange heißt seit Kurzem KAFFEE KARAMELL. |
Welche Entwicklung würdet ihr, so ihr könntet, lieber heute als morgen wieder rückgängig machen und was um keinen Preis wieder „wie früher“ haben wollen?
ALU: Ich würde gern den Lärm weghaben. Warum kann man hier nicht autofreie Zone machen? Wäre doch ganz schön für uns alle und auch weniger gefährlich für die Kinder. Ich würde gern (wie früher) nicht immer einen Tisch im Schalander bestellen müssen, wenn ich mal Kniffel spielen gehen will☺, ansonsten hat alles seine Zeit und seine Berechtigung! Bis auf den Lärm, weniger Lärm vor meinem Schlafzimmer zu jeder Tages- und Nachtzeit wäre schön.
Konsti: Ich würde gerne die vielen Bausünden aus Beton und Glas rückgängig machen. Bezahlbarer Wohnraum und mehr Freiflächen, damit man sich nicht mit 3 Eltern und 2 Kindern auf dem Quadratmeter Spielplatz stapeln muss. Um keinen Preis will ich, dass die neuen Menschen und Impulse weg sind. Denn die suchen ebenso neue Heimat wie ich.
Unser Kiez ist in Bewegung. Nicht nur ist fast jede Baulücke mittlerweile geschlossen, die Einwohnerdichte entsprechend gestiegen, auch viele alteingesessene „Institutionen“ verschwinden (so schließt im Mai diesen Jahr etwa der Club K17). Sind daran die „Neuen“ schuld?
ALU: Ich glaube nicht, dass sie daran schuld sind, aber sicherlich verstärken, oder beschleunigen sie Prozesse. Das K17 war bereits seit vier Jahren immer wieder daran zu überlegen wie es weiter geht, nun wird der Schritt des Weggangs (der Auflösung) also gewagt. Das unser „Café Orange“ nun „Karamell“ heißt und Leuchtbuchstaben hat (HILFE!) ist weniger schön, aber sicherlich auch der Tatsache geschuldet, dass immer mehr Menschen dort Mittag essen wollen und die sich eben anpassen. Ich sag ja, wir stehen mitten drin in der Entwicklung und die schnelleren Kassen in der Biocompany kommen allen zugute.
Konsti: „Die Neuen“ sind ebenso ein Zeichen dieser Veränderungen. Ich frage mich, wo werden bald die Orte sein, wegen derer Berlin lebenswert und zuzugswürdig war? Funktioniert die Stadt überhaupt noch? Andersherum: Ohne Hilfe von Außen hätte es keinen dieser Impulse gegeben. Spannend ist also die Frage: Was wird Neues kommen? Werden die teuren Gewerbemieten auch neue, längerfristige Angebote bringen oder werden immer mehr Schaufenster zugeklebt und Büros dahinter eröffnet?
Was erwartet und was wünscht ihr euch als „alte Kiezbewohner/innen“ von den Zugezogenen?
ALU: Ich fänd es ja toll, wenn die neuen Hausbesitzer, Einwohner mal einladen würden. Sowas wie ein „Wir-sind-da-kommt-doch-in-unseren-Garten“-Fest oder sowas. Vielleicht könnte man sich dann kennenlernen?
Konsti: Ich erwarte wenig, ich hoffe nur, dass es sich irgendwann verwächst, doch ob ich dann noch hier sein möchte, weiß ich nicht.
Und zum Schluss eure Empfehlungen für die „Neuen“: Was sind absolute No-Gos, todsichere Fettnäpfe und vermeidbare Peinlichkeiten? Wie sammelt man Plus- und Sympathiepunkte und wie macht´s richtig gut?
ALU: Fahr mich nicht um mit deinem Cabrio, setz die Sonnenbrille ab, wenn du deine Brötchen bestellst (sonst muss ich lachen) und bleibe freundlich. Als mich neulich wieder Jemand anpöbelte (recht jung, Hipsterkleidung), dass ich mal zur Seite rücken soll (im Kaisers), war ich kurz davor ihn zu schubsen. Rücksichtnahme ist nämlich ’ne ziemlich einfache Sache und sollte in jeder Lebenssituation angewandt werden, auch wenn ich gerade mein Kind, das Laufrad und den Einkaufswagen vor den Äpfeln geparkt habe.
Konsti: Ich denke, wir alle sollten uns ordentlich benehmen, immer wieder neu. Ich treffe oft auf Unwissenheit, was den Kiez, seine Geschichte, seine Zusammenhänge, aber auch Berlin generell angeht. Außerdem kann ich die Vorurteile gegen „den Berliner“ nicht mehr hören. Ich finde man kann nicht in einer Stadt leben, mit der man sich nicht bereit ist, ausreichend zu identifizieren. Nette alte Damen im Restaurant gehen dagegen immer.
Bänschstraße Ecke Pettenkofer im Frühsommer 2016 |
IN EIGENER SACHE: Der Dialog zwischen „Neu- und Altbewohner/innen“ ist m.E. ein wichtiger Schritt, damit das Zusammenleben unter den neuen, oftmals engeren, lauteren Bedingungen gelingt – hier wie in jedem anderen Quartier in Berlin und anderswo. Gerne möchte ich hier eine kleine Dialogplattform schaffen. Darum: Wer mag mit mir über „Gentrifizierung“ sprechen? Ich freue mich über würde mich über jedes Interesse! Außerdem würde ich hier im Kiez gerne ein Nachbarschaftsfest organisieren. Wer hat Lust hat, bitte melden!
immer wieder ein spannendest thema.
ich selbst lebe schon immer in berlin, und bin vor fast acht jahren von köpenick nach freidrichshain gezogen. ich wohne auf der anderen seite der frankfurter allee, bin aber oft im samariterkiez. mir ist der wohnungsbau hier in den letzte jahren leider auch eher negativ als postitv aufgefallen. wohnungen findet man nur noch, wenn man entweder viel geld ausgeben oder einen wohnungsberechtigungsschein vorweisen kann.
ich möchte dieses jahr gern umziehen und werde wohl auf andere bezirke ausweichen, weil es mir in fhain zu teuer und langsam "zu prenzelberg" wird…
die menschen stören mich nicht, nur dass der bezirk für normalverdiener einfach langsam zu teuer wird und es immer mehr "schickimicki" durch die neubauten, die auch noch die letzte luft zwischen den häuserreihen wegnehmen, gibt.
berlin ist u.a. beliebt geworden, weil man hier günstig wohnen kann, im gegensatz zu so manch anderer stadt. ich bin gespannt, wie lange das noch so bleibt.
ich hoffe berlin kann sich noch so lange wie möglich etwas von seinem rohen und rauhen charakter erhalten, auch wenn es in der innenstadt momentan nicht mehr danach aussieht.
VG Doro
Liebe Dorette,
schade, dass du wegziehst/wegziehen musst. Ich wünsche dir viel Erfolg, dass du etwas Schönes findest. In welche Richtung suchst du denn? Diesseits des Rings ist es ja überall ähnlich teuer.
Was den rohen, rauen Charakter anbelangt, so hoffe ich mit dir – und bin doch ganz guter Dinge.
LG I.
am liebsten nach weißensee, aber ich bin recht offen, was andere bezirke in ostberlin angeht. lieber ost, weil hier alle meine lieben menschen wohnen.
LG Doro
Liebe Indre, mit Stadtentwicklung habe ich keine praktischen Erfahrungen. Für mich als Laie stellt sich aber schon die Frage, ob eine Stadt nicht in der Lage sein sollte, mit dem entsprechenden Willen und einem guten Konzept, das soziale Gleichgewicht in einem machbaren Rahmen zu erhalten und zu fördern. Oft sind aber nur schnelle Lösungen mit schnellem Geld von Interesse. Konzepte und Vorhaben, die einen längeren sowohl zeitlichen als auch finanziellen Atem brauchen, werden oft genug nur als Interimslösungen geduldet. Das finde ich schade und fantasielos. Es gibt so viele erstaunliche Beispiele, was Menschen ohne großen finanziellen Background zu leisten imstande sind, wenn man sie läßt.
Die Situation in Berlin kenne ich nur als Tourist. Die letzten Jahre habe ich aus persönlichen Gründen oft im „verrufenen“ Prenzlauer Berg zugebracht. Veränderungen sind mir über die Jahre schon aufgefallen, persönlich habe ich aber keine unangenehmen Begegnungen gehabt. Allein die Läden werden immer mehr, für die meine Geldbörse einfach zu klein ist.
Bei uns in der Stadt sind die Auswirkungen der so genannten Gentrifizierung im Kleinen auch zu spüren. Steigende Mieten, unsensible Sanierung, das Wegfallen von Freiräumen für nichtkommerzielle Projekte. Hier will ich gar nicht so weit ausholen. Dir geht es ja mehr um die Situation in eurem Kiez.
Nur noch ein Gedanke: Ich finde den Kontrast von „Alten“ und „Neuen“ zu hart. Es steht ja den Leuten nicht auf der Stirn geschrieben und irgendwann ist doch jeder mal dazugekommen. Das Zusammenleben ist immer von Respekt geprägt, wie es ja im Interview schon anklang. Dafür spielt es keine Rolle, wann man gekommen ist. Und wie du schon sagtest, in deinem Haus wohnen ja durchaus einige Leute, die schon länger da sind. Vielleicht sind Begegnungen prinzipiell eine gute Idee, unabhängig davon, wer alt oder neu ist. Gelegenheiten, um Vorurteile abzubauen, finde ich immer hilfreich. Und letztendlich ist es durchaus legitim, nicht jeden zu mögen, so lange grundsätzliche Formen gewahrt bleiben. Naja, so in etwa, stelle ich mir das vor. 🙂
LG Annett
Liebe Annett,
danke für deine guten Gedanken.
Zu 1) "Konzepte" im Sinne von gut durchdachten, mensch- und raumbezogenen Bebauungsplänen sind leider sehr rar. Ich kenne nur eine handvoll Bauvorhaben, bei denen Stadt und Bewohner/innen mit Fachleuten gemeinsam planten – es sind allesamt gelungene Wohnorte geworden. In jeder Hinsicht. Es ist ein Jammer, dass das nicht mehr gemacht wird. Aber es spült eben weniger kurzfristig Geld in die löchrigen Berliner Kassen…
Zu 4) Über diesen Punkt denke ich viel nach – und komme doch immer wieder an den Punkt, dass es diese Konstruktion von "Neuen" und "Alten" eben doch gibt. In zweierlei Hinsicht sogar:
Erstens i.S.v. "Neue" als "Neu Zugezogene" und "Alte" als "Alteingessene". Diese (wie jede soziale Klassifizierung nicht ganz saubere) Unterscheidung ist temporär. D.h. irgendwann bin ich auch nicht mehr "neu", spätestens wahrscheinlich, wenn ich mich selbst nicht mehr so fühle.
Daneben gibt es die "Neuen" dann noch als "Neubauwohner/innen" und die "Alten" als "Altbau-" oder "Bestandsbewohner/innen" – und diese Unterscheidung ist viel heikler. Denn die Neubauten stehen für Verdrängung, für Lärm, Dichte etc. Umgekehrt stehen "Alt"- oder ältere Bauten für das, was verdrängt wird. Vor allem bei dieser Unterscheidung wird m.E. darum das Thema "respektvolles Miteinander" virulent.
Zwar etwas spät, aber bei der zweiten Unterscheidung stimme ich völlig mit Dir überein.
Auf der re:publica habe ich übrigens sehr interessiert eine Diskussion verfolgt, die sehr nah dran ist an Dir, räumlich und thematisch. Über diese Seite kannst du mal reinschauen, wenn Du magst: http://postberlin.de/post/144041468693/creatives-vs-kunst-zerst%C3%B6rung-des-kreativen
Liebe Grüße und auch Dir ein schönes und ausgeschlafenes Pfingstwochenende 🙂
Annett
Die Gentrifizierung erleben wir in unserem "Kiez" seit ungefähr 10 Jahren. Ein großer Investor hat 80% aller zum Verkauf stehenden Mehrfamilienhäuser, Fabrikationsgebäude und Kasernen aufgekauft udn zu Luxuswohnungen und Lofts "hochsaniert", ein anderen hat alle Freiflächen aufgekauft und mit Luxusappartments bebaut. Die bevölkerungsstruktur hat sich extrem gewandelt, die geringverdineer werden verdrängt und finden in 30km Umkreis keine bezahlbaren Wohnungen mehr. Unser Mehrfamilienhaus stand vor 10 Jahren zu etwas mehr als die Hälfte von dem Preis zum Verkauf, zu dem es letztes Jahr ein Kapitalanleger gekauft – mit dem Ziel es zu entmieten und die sanierten Wohnungen zum doppelten Quadratmeterpreis zu vermieten. Dieser Plan ging nur teilweise auf, weil ein Teil der Mieter sich mittels Mieterverein gewehrt hat – es gibt nämlich keine bezahlbaren Alternativwohnungen mehr im Stadtgebiet, schon gar nicht für alleinerziehende Freiberufler. Die permanenten Schikanen seitdem können einem das Leben gründlich vermiesen.
Die Stadt? Die hofiert die Investoren und schert sich nicht um die alteingesessenen Bürger mit geringerem Einkommen, die dafür vertrieben werden. Sozialer Wohnungsbau? Fehlanzeige.
LG, Katja
Leider hast du recht. Die Stadtentwicklungspolitik hat vielerorts versagt. Der soziale Wohnungsbau wird viel zu wenig gefördert, dabei gibt es viele gute, neue Ideen. Hier im Kiez wurden vor allem Lücken geschlossen, das macht die neuen Wohnungen nicht günstiger, aber ich hoffe, dass der Altbestand deswegen nicht noch (viel) teurer wird und die Alteingesessenen bleiben. Sie sind ja diejenigen, die den Kiez so attraktiv gemacht haben…