Weil Weihnachten und – was mich mehr berührt – das Jahresende naht und ich noch Reisen, Erledigungen und Hausaufgaben vor mir habe, wollte ich mich diesmal mit einem Zitat begnügen und eine Äußerung streuen, die Lichtlein anzündet:
»[Migranten] sind nicht willkommen, aber sie werden gebraucht. Sie […] sind die ersten, die zu Sündenböcken gestempelt werden. Aus ihrem Vorhandensein beziehen Parteien, die sonst nichts zu sagen haben, den Anschein von Legitimität. An ihnen hält sich die vox populi schadlos. Sie nehmen die Arbeit weg, für die sich die Einheimischen längst zu schade sind. Sie besetzen die Arbeitsplätze, für die sich andere nicht mehr gewinnen lassen. Sie übernehmen die 3-d-jobs: dirty, dangerous, difficult. Schon daß sie anders sind, spricht gegen sie.«
Das Zitat stammt aus einem Aufsatz von Karl Schlögel, der 2002 erschienen, erstmals im Jahr 2000 veröffentlicht und das heißt, noch im vorigen Jahrhundert geschrieben wurde1, lange bevor die »Flut«, »Welle«, die»Ströme« und wie die alarmistischen Begriffe heißen, Deutschland erreicht hatte. Schlögel nennt Zahlen, 1980 waren es 8,2 Millionen, 1985 rund 18,9 Millionen, die vor Krieg, Hunger, Verfolgung davonliefen; dazu kommen Arbeitsmigranten und Umweltflüchtlinge und die in den Statistiken nicht erfasste Landflucht – von den Dörfern in Megacities.
»1996 war der Hochkommissar für Flüchtlingsfragen der Vereinten Nationen zuständig für rund 26 Millionen Menschen. Vielleicht sind es aber in Wahrheit auch doppelt so viele.«
Inzwischen sind es noch mehr. Die Bewegung der Menschen steigt fast so rasch wie die der Güter. Auch ich kaufe manchmal Beeren aus Peru und mein Handy enthält ichweißnichtwieviele Stoffe aus Ländern, deren Namen ich nicht kenne. Warum sollen nur die Waren, Ideen, Nachrichten, Touristen, Manager, Spekulanten, Künstler, Politiker und Liebespaare um die Welt rasen?
Flüchtlinge sind wichtig, weil die Konzentration auf dieses Thema hilft, andere Themen zu vernachlässigen, nicht zu diskutieren. Ebenso wichtig wie Freundlichkeit, Spenden oder Deutschkurse scheint mir deshalb die Verbreitung des Wissens, dass Wanderungen zum modernen Leben gehören wie die offenen Grenzen für Kapital, Waren und betuchte Reisende. Weshalb ich mich bemüßigt fühle, die knapp 20 Jahre alten Erkenntnisse auch per Blog in die Welt zu schicken.
Das sollte als Jahresendgeschenk reichen, aber dann hörte ich eine Sendung über diese einst »sozialen Medien«, die immer mehr zum Tummelplatz bösartiger Trolle werden, laut, ordinär, jeden und alles übertrumpfend. Da ging mir durch den Kopf, dass die Aufmerksamkeit, die diesen allgegenwärtigen Kotzkübeln gewidmet wird, auch dazu beiträgt, dass andere Themen vernachlässigt werden.
Mein Langzeitgedächtnis erinnerte sich an andere Formen der Überbietung: In der Werbung wie in den Nachrichten und erst recht in Filmen und Computerspielen geht es seit vielen Jahren darum, immer lauter, immer deftiger, noch näher am Schock möglichst viele Nutzer bzw. Kunden anzuziehen. Nur wird darüber kaum mehr diskutiert.
Es ist mir stets ein Vergnügen, mehrere Perspektiven zu berücksichtigen. Die Dinge nicht aus einem Punkt zu erklären hilft mir, dem Kulturpessimismus ein Schnippchen zu schlagen.
Und weil ich beim Auffächern bin: Aus aktuellem Anlass diskutierten wir neulich über die Frage, woher dieses Bild vom Mann als starkes, tüchtiges, aggressives, im Glücksfall auch verlässliches Wesen kommt. Altgriechische Literatur? Bibel? Noch ältere Sagen und identitätsstiftende Erzählungen? Waren es Wunschphantasien von Bänkelsängern und herumschweifenden Dichtern, die ihren Lebensunterhalt verdienten, indem sie denen, die ihnen ein paar Münzen zuwarfen, mit Heldentaten schmeichelten?
Diese Interpretation widerspricht gewiss aller Philologie, auch hat es sicher erfolgreiche Krieger und muskelbepackte Anführer gegeben. Es hat vermutlich auch tapfere Frauen gegeben, und sei es, dass sie diesen Kämpfern den Rücken gestärkt haben. Oder kommt die Idee von Frauen, die künftige Helden erzogen und von starken Männern geträumt haben? Entstand sie als Wunschphantasie, weil die Welt immer schon bedrohlich und in Zeiten, als es noch mehr Wölfe, Bären und Diktatoren gab, noch gefährlicher war? Ich überlege, wovon wir jetzt, wo starke, verrückte, eitle, machtgierige Männer regieren, nicht reden, wenn wir über zwei, drei, viele Geschlechter reden. Und: wie künftig multiple Geschlechter über die ja auch zunehmende Spezies starker Frauen reden werden.
Soviel als Beitrag zu den heiligen Abenden im Kreis von Familie, starken und schwachen Freundinnen und Freunden.
1 Planet der Nomaden, in: Karl Schlögel, Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang, München-Wien 2002, S. 67