Ende letzten Jahres durfte ich für das Museum für Kommunikation Frankfurt eine sehr spannende und lebendige Debatte über Plattform-Alternativen moderieren. Gäste waren neben dem Kryptographiker Jörn Müller-Quade der Netztheoretiker Michael Seemann und die Medienforscherin Nele Heise, die just an diesem Abend die letzten Vorbereitungen für den Launch des Otherwise Networks – einem Netzwerk aus freien Theoretiker*innen, Praktiker*innen, Publizist*innen – trafen.
Warum und wozu sie sich zusammenschliessen? Mit wem und zu was sie arbeiten? Um diese und um Fragen rund um den technologischen Wandel geht es im heutigen Gespräch mit Michael Seemann. Vielen Dank dafür!
Was war der Anlass, Otherwise zu gründen und was sind eure Ziele?
Wir waren über lange Zeit alle mehr oder weniger lose verbundene Einzelkämpfer*innen mit mal etwas mehr, mal etwas weniger institutionelle Bindung hatten, die jeweils vor sich hinforschten und/oder publizierten. Wir wussten voneinander und waren uns gewahr, dass wir an ähnlichen Themen arbeiten. Das ist vor allem die Schnittstelle von Digitalisierung und Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft und Recht.
Irgendwann kam die Idee auf, dass man sich zusammenschließen könnte, um einerseits gemeinsam als Institution in der Öffentlichkeit auftreten zu können und zweitens, um mit gebündelten Kräften auch größere Projekte stemmen zu können. Natürlich geht es auch darum, sich intern zu vernetzen und Themen weiter zu bearbeiten, die uns wichtig sind. Wir sind für uns selbst bereits ein Treffpunkt für Austausch über diese Fragen und wollen das in Zukunft auch immer mehr nach außen sein.
Wer seid ihr und was zeichnet euch aus?
Wir verstehen uns als Denkraum für den technologischen Wandel. Davon gibt es zwar viele, aber uns unterscheidet, dass wir erstens transdisziplinär breit aufgestellt sind – wir bringen von Kommunikationswissenschaft, Politikwissenschaft bis Informatik, Wirtschaftswissenschaften und Rechtswissenschaften alle möglichen Perspektiven mit. Zweitens sind wir unabhängiger.
Wir haben keinerlei Bindung an irgendeine Partei, irgendein Unternehmen oder sonst irgendeine Institution. Auch sind wir nicht aktivistisch aufgestellt – es geht uns nicht darum, den politischen Diskurs in eine bestimmte Richtung zu lenken. Wir wollen vielmehr verstehen und im Verstehen aufklären.
Was eint und was unterscheidet euch?
Wir sind einerseits alle ziemliche Individualisten – was uns gleichzeitig eint und unterscheidet. Wir haben alle ein gewissen akademischen Bezug, mal mehr, mal weniger institutionell ausgeprägt. Aber wir alle verstehen uns schon auf gewisse weise als Forscher*innen.
Weil wir alle unterschiedliche Hintergründe haben, ergänzen wir uns in unseren Sichtweisen, aber manchmal kann es natürlich auch zu hitzigen Diskussionen kommen. Das gehört dazu, wird aber von uns allen als produktiv gesehen.
Digitalisierung wird häufig als technologisches Phänomen verstanden. Ihr betrachtet sie als politische Praxis. Welche Rolle spielt die Technologie für euch?
Für mich ist Technologie vor allem ein strukturierender Faktor, der menschlichen Handlungen möglich und mehr oder weniger wahrscheinlich macht. Jeder Mensch hat das Bedürfnis zu kommunizieren. Aber die Medien, die wir dafür verfügbar haben, bestimmen mit, mit wem wir aus austauschen und wie. Politik passiert dann, wenn wir darüber diskutieren, ob bestimmte menschliche Handlungen gesellschaftlich erwünscht sind: Beispiel Datensammeln oder Trolling.
»Es ist die erste Digitalisierung der Gesellschaft.
Wir fahren alle auf Sicht.«
Wie bewertet ihr die aktuelle Praxis der Digitalisierung? Und wie macht eine gute Praxis aus?
Wenn wir von dem fortschreitenden Prozess der Implementierung digitaler Praktiken in die Gesellschaft sprechen, dann gibt es natürlich einiges – vor allem an der Politik – zu kritisieren. Die Politik reagiert zu langsam, macht immer wieder dieselben Fehler. Regulierungen sind wenig durchdacht, oder von den Lobbyisten der Industrien beeinflusst und der Staat nimmt sich zu viel Möglichkeiten, die Technologie gegen seine Bürger*innen einzusetzen (die alleinige Konzentration auf Technologien zur Strafverfolgung halte ich für wenig sinnvoll), etc.
Gleichzeitig reagieren Medien und Zivilgesellschaft oft panisch oder springen unüberlegt auf Hypes auf. Hier wünsche ich mir mehr Gelassenheit, mehr Analyse, mehr Wissen und weniger Empörung. Andererseits müssen wir uns vor Augen führen, dass das die erste Digitalisierung der Gesellschaft ist. Wir fahren alle auf Sicht und was gestern noch völlig logisch und zwingend wirkte, kann heute bereits in die falsche Richtung führen.
Wo liegen die großen Chancen der Digitalisierung? Und was sind aktuell die größten Risiken?
Der Chancen gibt es viele. Communities, die sich über effektivere Strukturen organisieren, entstehen überall. Der Wissenstransfer in der Gesellschaft hat wahnsinnig zugenommen. Speziell die Stimmen von Minderheiten werden heute lauter und deutlicher wahrgenommen, als das bisher der Fall ist. Natürlich sorgt das auch für Reibung und macht auch zurecht randständigere Communities sichtbarer wie Verschwörungstheoretiker, aber ohne Reibung kein Fortschritt.
»Es wurde lange geglaubt, dass das Netz habe halt Vorteile und Nachteile. Ich halte diese Sichtweise mittlerweile für naiv. Die Vorteile SIND die Nachteile.«
Das gesamte Wissen der Welt ist heute – zumindest theoretisch – per Fingertipp weltweit verfügbar. Das hat unbestreitbare Vorteile, stellt uns aber auch vor neue Herausforderungen. Es wurde lange geglaubt, dass das Netz habe halt Vorteile und Nachteile. Ich halte diese Sichtweise mittlerweile für naiv. Die Vorteile SIND die Nachteile. Wenn sich etwas so radikal ändert – selbst wenn es in die gewünschte Richtung geht – wird es neue, ungekannte Probleme aufwerfen. Da sind wir gerade.
Wenn ich mich in die virtuelle Welt begebe, habe ich mitunter das Gefühl, ich betrete Wildnis, also Orte jenseits der Zivilisation. Wie würdet ihr das Netz als Kulturlandschaft beschreiben?
Ich sehe dagegen gar keine Wildnis mehr. In der Wildnis waren die paar wenigen Menschen, die in Newsgroups und Mailboxen in Prä-Internetzeiten unterwegs waren. Was wir heute im Internet sehen gleicht eher den Metropolen des späten 19. Jahrhunderts wie zum Beispiel London.
London ist mit der Industrialisierung wahnsinnig schnell gewachsen und die Strukturen und kulturellen Praktiken konnten nicht mithalten. Es gab noch kein Bewusstsein für Umweltverschmutzung, kein Verbot von Kinderarbeit, kaum organisierte Arbeiterschaften und alle traten sich auf die Füße und gingen sich auf die Nerven. Und ähnlich wie es damals zu Gegenbewegungen gekommen ist, die die Industrialisierung versuchten menschlicher zu gestalten, so werden auch heute Strukturen gefunden werden, die das Leben im Internet wieder erträglicher machen.
Letzte Frage: Wird Facebook die Kurve kriegen?
Es steht auf der Kippe. Man könnte annehmen, dass Facebook einfach too big to fail ist. Außerdem zieht die Skandal-Karawane schon so lange an uns vorbei, dass ich das Gefühl habe, dass alle Leute, die sowas zum Abspringen motiviert, bereits abgesprungen sind. Ich denke aber, Facebook kann es trotzdem noch vermasseln. Nach der Kritik an Facebook, dass es zu sehr polarisiere, haben sie zum Beispiel den Newsfeed-Algorithmus geändert. Seitdem ist mein Newsfeed einfach langweilig geworden und ich schau kaum mehr rein. Sowas vergrault dann auch die Leute, denen die Skandale mehr oder weniger egal sind – zum Beispiel mich.
Interessant sind natürlich die regulatorischen Bemühungen, die aus Europa aufgefahren werden, aber verstärkt auch aus den USA kommen. Gerade bei den konkreten europäischen Bemühungen ist aber nie ganz klar, was wirklich bezweckt werden soll. Geht es wirklich um Privatsphäre? Oder doch eher um Marktmacht? Oder gar um Protektionismus bzw. Gegenschläge im Handelskrieg mit den USA?
Ich glaube, die EU sollte hier konsequenter definieren, was sie eigentlich will und ihre Handlungen entsprechend ausrichten. Die Sorgen bezüglich der Marktkonzentration halte ich für sehr berechtigt, aber dann sollte man sie auch genau als solche adressieren. Ich finde zum Beispiel, Facebook sollte wirklich keine weiteren Wettbewerber aufkaufen dürfen bzw. am besten Whatsapp und Instagram wieder abspalten. Auch bei Google sollten wir Fragen, ob es gesund ist, wenn die größte Suchmaschine gleichzeitig das größte Videoportal betreibt. Ob es aber sinnvoll ist, dass die EU-Bürger*innen noch zwanzig weitere Datenschutzerklärungen wegklicken sollen, bevor sie ein Android-Telefon in Benutzung nehmen, halte ich für fraglich.
Beitragsbild: Gustave Doré | London is a Pilgrim | 1872