»Inklusion« – ein schwieriges Wort. Es steht für größtmögliche Offenheit und bleibt doch der Mehrheit verschlossen. Wer jenseits der eingefleischten Fach- und Fangemeinde weiß schon, dass das lateinstämmige Fremdwort soziologisch gewendet das »Rezept« für eine bessere Welt enthält? Der öffentliche Diskurs dreht sich vor allem um Barrierefreiheiten: mehr Fahrstühle im öffentlichen Raum, »einfache Sprache« im Internet, Gebärdendolmetscher/innen im Fernsehen etc. Was diese scheinbar »nur« für Minderheiten gemachten Erleichterungen mit einer besseren Welt zu tun haben und wie und warum alle Menschen davon profitieren – davon wird kaum erzählt. So bleibt der Begriff befremdlich leer und traurig abstrakt – unfähig, um eine Gesellschaft für Inklusion zu begeistern oder gar zu mobilisieren {und nichts anderes meint ja die vielzitierte Rede vom »Narrativ«}.
»Alles inklusive« von Mareice Kaiser
Fast wollte ich schon daran verzweifeln, dass wieder eine wunderbare Idee an ihrer Unverständlichkeit zu scheitern drohte. Doch dann trat Mareice Kaiser auf die Bühne: erstmals am 2. März 2014. An diesem ersten Sonntag des Monats entließ sie ihr »Kaiserinnenreich« ins weltweite Web, wo es sich innert kürzester Zeit als »das inklusive Familienblog« etablierte. Zweieinhalb Jahre später ist nun ihr erstes Buch erschienen – und davon soll heute die Rede sein.
Wer »Alles inklusive« liest, begreift, was die »inklusive Gesellschaft« so verdammt lebens- und liebenswert macht.
Das Elternwerden hatte sich Mareice anders vorgestellt, nämlich ziemlich ähnlich wie ich: sauanstrengend und wunderschön. Sauanstrengend weil kleine und noch kleinere Kinder einen unablässig zwingen, die eigenen Bedürfnisse hintenan zu stellen {fit und ausgeschlafen – was war das doch gleich?). Wunderschön weil es solch eine unbeschreibliche Freude ist, zu erleben, wie sich diese kleinen Menschen mit überbordendem Charme und frappierenden Einfallsreichtum die Welt zu eigen machen und manchmal – was ein ganz besonderes Glück ist – genau die Dinge lieben lernen, für die man selber brennt.
Alles anders
Bei Mareice und ihrem Mann Thorben ist es die Musik: »Thorben komponierte Lieder und wollte eine CD daraus machen. Für jeden Wochentag ein Lied, wir wollten es morgens für nach dem Aufstehen für Greta singen. Und nicht nur für Gretas Geburt hatte er ein Mixtape zusammengestellt, sondern auch für die Zeit danach. Die coolsten Kinderlieder; auf einer CD. Wir waren vorbereitet für die musikalische Früherziehung unserer Tochter.« Doch Greta kommt gehörlos auf die Welt. Unter anderem. Der seltene Fehler auf dem achten Chromosom »kann« nämlich noch viel mehr: Er macht ihre Tochter taubblind (ähnlich: CHARGE-Syndrom), ihre Muskulatur kraftlos und ihren Darm krank {Morbus Hirschsprung}. Greta ist selbst für Spezialist/innen ein außergewöhnliches Supersonderspezialkind.
Was es heißt, mit einem »Supersonderspezialkind« in unserer immer noch auf »Superdubernormalos« ausgerichteten Welt zu leben, davon handelt das Buch der 35jährigen Journalistin, Autorin und Bloggerin. Es ist ein Leben im Ausnahmezustand: ein Leben zwischen Krankenhaus und Kita, zwischen Vorurteilen, Überforderungen, Bürokratiemonstern und Gewissenskonflikten, getragen von der unbedingten Liebe zu ihrer Tochter und der Sehnsucht nach Selbstverständlichkeit.
»Dass es in der Geburtsmail meines Kindes nicht um unwichtige Details wie Größe und Gewicht gehen soll, wusste ich schon vor Gretas Geburt. Dass wir einen Chromosomenfehler erklären würden, nicht.«
Es gelingt den jungen Eltern. Wie vieles andere auch – der Mensch wächst bisweilen sich über sich selbst hinaus. Aber alles hat seine Grenzen.
Der Begriff der »strukturellen Diskriminierung« wird traurig lebendig
Als sich stundenlang niemand im Krankenhaus um die schwerkranke Greta kümmert, bricht Thorben zusammen. »Ich trage Momo {ihre jüngere Schwester} auf meinem Arm, sie weint. So laut hat sie ihren Vater noch nie schreien gehört. Ich ihn auch nicht.« Die Krankenschwester offenkundig auch nicht. Sie drückt einen Knopf und beschert den erschöpften Eltern damit einen Polizeieinsatz und ein lebenslängliches Hausverbot.
Der Begriff der »strukturellen Diskriminierung« wird hier so greifbar wie unerträglich. Man möchte stellvertretend schreien, weinen, heulen und wüten.
Doch so wie Mareice den außer sich geratenen Thorben erst flüsternd, dann etwas lauter wieder zur Räson bringt, bewahrt sie auch ihre Leser/innen davor, an ihrer Stelle die Contenance zu verlieren. Bestimmt und ruhig führt sie sie zur nächsten Episode und erzählt – ohne Groll oder vorwurfsvolle Erregung – von all den anderen Hürden und Stolpersteinen, den glücklichen Zufällen und dem zufälligem Glück.
»Greta geht zur Kita. Wow! Thorben schickt mir Fotos aus der Kita auf mein Smartphone. {…} Auf dem Foto sehe ich Greta auf einer Decke im Gras liegen. Um sie herum sitzen vier Kinder, alle sind mit Greta beschäftigt. „Sie kümmern sich ganz liebevoll {…}“, schreibt Thorben mir.«
… und dabei könnte es so einfach sein
Doch bei aller Unaufgeregtheit lässt Mareice Kaiser keinen Zweifel daran, dass die Welt so wie sie ist, nicht okay ist. Denn es ist eine Welt, in der ihr Kind die Kita verlassen muss, weil es zu behindert ist. Eine Welt, in der sie dankbar dafür sein muss, wenn jemand ihr Kind betreut und sie – aufs Muttersein reduziert – ihrer Arbeit nachgehen kann. Eine Welt, in der sie stets darauf angewiesen ist, dass das Glück ihr hold ist, weil keine verlässlichen Angebote und Strukturen für Familien mit »Supersonderspezialkindern« gibt.
Dabei ist es gar nicht schwer, es anders und besser zu machen: »7.30 Uhr: Anna ist da. Sie ist seit einem Jahr unsere Familienhelfer-Au-Pair und assistiert Greta im Wechsel mit Paul, unserem zweiten Au-Pair. Finanziert werden sie vom neuen ‚Lebensgesetz‘ {Special Needs Edition}, das eine Verbesserung des alten Teilhabegesetzes ist.« Komplettiert wird das Gesetz in Mareices Zukunftsvision vom »Gesundheitsclub«.
»Unser Familienberater Herr Müller hatte im Online-Entwicklungsbuch gelesen, dass Greta gewachsen ist. In dieses Buch tragen alle Menschen, die mit unserer Tochter zu tun haben, ihre Beobachtungen ein. {…} Herr Müller, der Greta bereits seit vielen Jahren kennt und mindestens einmal im Jahr zu uns nach Hause kommt, um auf uns zugeschnittene Angebote zu machen, schaut proaktiv einmal pro Woche ins Online-Entwicklungsbuch und macht uns Vorschläge zur Unterstützung.«
Das ist keine realitätsferne Utopie, sondern schlichtweg die Einlösung des »Versprechens« auf allgemeine Gleichbehandlung – und am Ende wahrscheinlich sogar wirtschaftlich günstiger.
Ein wegweisendes Buch
Wer Mareices Buch liest und sie durch das Dickicht der strukturellen und mentalen Grenzen bis zum plötzlichen Tod ihrer Tochter Greta begleitet, kann kaum anders als zu begreifen, was die Idee der »inklusiven Gesellschaft« so lebens- und liebenswert macht – und warum es sich für sie zu kämpfen lohnt. Damit gelingt der Autorin, was jedes »Narrativ« will: die Menschen für eine gesellschaftliche Vision zu begeistern. Für mich ist »Alles inklusive« darum nicht nur das, was man »gesellschaftlich relevant« nennt, sondern auch oder vielleicht nochmal mehr ein politisch wegweisendes Buch.
Mareice Kaiser
Alles inklusive
Aus dem Leben mit meiner behinderten Tochter
Fischer Verlag
Preis € (D) 14,99 | € (A) 15,50
Link zum Verlag | Link zu Mareices Lesungen
Genauso sehe ich es auch, es ist ein sehr politisches Buch. Auf verschiedenen Ebenen. Danke für deine klugen und analytischen Worte.
„Dafür nicht“, wie die Hamburger/innen sagen. 🙂 Ich danke dir.
richtigrichtigrichtig. dein letzter satz gefällt mir sehr gut. irgendwie könnte man da auch sämtliche andere schöne neue gesellschaftsideen reinpacken…
liebe grüße,
jule*
p.s.: mich würde ein bisschen interessieren, wie du jetzt darauf kommst…
Liebe Jule,
du hast meinen Betrag gelesen, weil ich ihn mitten im Schreiben einmal versehentlich veröffentlicht hatte – was ich nur darum bemerkte :). Nun weißt du, wie ich auf den Satz mit dem „Narrativ“ kam. Ja, es läßt sich auf viele Gesellschaftsideen übertragen (z.B. Europa).
Herzlich, I.
und so vollständig kann ich noch mehr und zustimmender darüber nicken.
liebst,
jule*