Nicht Individualität, sondern Subjektivität ist der Weg in ein selbstbestimmtes Leben.
Individualisierung ist ein Megatrend, der, so das Zukunftsinstitut, im Kern eine zunehmende Wahlfreiheit beschreibe. Ob Geschlecht, Gemeinschaftsform oder die eigene Geschichte – alles könne heute quasi selbst gewählt und bestimmt werden. Das klingt verlockend. Aber hält der Megatrend, was er verspricht? Nein, meint Jonas Wollenhaupt. Denn die Individualisierung adressiere uns nicht in Form von freien Subjekten, sondern als vereinzelte Marktteilnehmer*innen, und das führe zu Entfremdung.
Um Entfremdung dreht sich auch seine Dissertation „Die Entfremdung des Subjekts“, die jüngst als Buchform erschienen ist. Sie schafft einen neuen Zugang zu Begriffen wie Aneignung, Subjektivität und Identität. Wie? Auch darüber spreche ich im heutigen Interview mit Jonas Wollenhaupt. Daneben geht es um Auswege aus der Entfremdung, um Identität und Identitätspolitik sowie die Chancen und Möglichkeiten des freien Subjekts.
Vielen Dank, lieber Jonas, für das gute Gespräch!
Wie und was genau hast du in deiner Doktorarbeit gemacht?
Kurz gesagt: Ich habe versucht, die Idee der Entfremdung zu retten. Unterwegs habe ich dann bemerkt, dass ich dafür auch die Idee des Subjekts retten muss.
Schaut man sich die Ideengeschichte an, dann fällt auf, dass das Subjekt fast ausnahmslos als Gegenbegriff zur Entfremdung bestimmt wurde. Das gilt von der griechischen Antike bis heute. Neuere Theorien haben das Subjekt dann fast vollständig im Objekt aufgelöst. Genau an diesem Punkt habe ich eingehakt.
Mithilfe der Theorie des Psychoanalytikers und Soziologen Alfred Lorenzer (1922-2002) lassen sich Subjekt und Objekt als Dialektik beschreiben. Das heißt, sie sind nun „zwei Seiten einer Medaille“. Sie bilden somit keinen Dualismus mehr, also zwei von einander unabhängige, gegensätzliche Pole. Entfremdung ist dabei ein Normalfall menschlicher Existenz und somit eine permanente Aufgabe.
Wie das?
Nun, als Mensch entwickeln wir unsere Subjektivität im Wechselspiel aus unseren biogenetischen Anlagen und unserem gesellschaftlichen Umfeld mit seinen spezifischen Strukturen. Die Aufgabe ist es, in diesem Spannungsverhältnis eine Identität zu finden, in der unsere Subjektivität bestmöglich zum Ausdruck kommen kann. Jedes soziale Umfeld bietet unterschiedliche Identitäten an, zum Beispiel nationale, geschlechtliche oder religiöse. Sie passen mehr oder weniger gut zu unseren subjektiven Bedürfnissen und Anlagen. Eine Umwelt, die keine unserer Subjektivität angemessene Identität zulässt, führt zu Entfremdung. Wenn es uns gelingt, eine passende Identität selber zu erarbeiten, spricht man von Aneignung.
Beispielhaft kann man die Diskussion um das dritte Geschlecht nehmen. Noch vor ein paar Jahrzehnten waren bei uns nur Mann/Frau als Identität denkbar und erlaubt. Jede*r war gezwungen, sich einer dieser bipolaren Identitäten zuzuordnen; die subjektiven Bedürfnisse vieler Menschen gingen darin jedoch nicht auf. Das führt zu Entfremdung. Unsere Identität prägt unsere Wahrnehmung und unser Denken, das heißt, wir verhalten uns als Mann oder als Frau zu uns selbst und gegenüber anderen. Ist das nicht stimmig, erfährt man sich selbst als fremd.
Dieses Beispiel macht das gesellschaftskritische Moment von Identität und Entfremdung, glaube ich, ganz gut deutlich.
Dr. Jonas Wollenhaupt, geb. 1982 in Frankfurt am Main, ist Journalist, Politologe und Soziologe. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich der Kritischen Theorie, der Sozialisationstheorie und Sozialpsychologie sowie der Kritischen Theorie des Subjekts.
Das Subjekt als das seiner selbst gewisse und sich selbst bestimmende Ich-Bewusstsein spielt im öffentlichen Diskurs keine große Rolle mehr. Alles dreht sich ums Individuum. Worin unterscheiden sich die beiden Begriffe und warum wendest du dich dem Subjekt zu?
Das Subjekt bildet sich wie gesagt im Spannungsfeld zwischen eigenen Bedürfnissen und Anlagen einerseits und sozialem Kontext andererseits. Damit ist es immer schon mit Gesellschaft verflochten. Das Individuum verstehe ich hingegen als vereinzelt; es steht der Gesellschaft gegenüber.
Gesellschaftsdiagnostisch ist es spannend, dass heute mehr vom Individuum als vom Subjekt gesprochen wird. Unser neoliberales Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell zielt auf Individualisierung, jedoch nicht in Form von freien Subjekten, sondern als vereinzelte Marktteilnehmer*innen. Das führt dazu, dass wir uns als vereinzelte Menschen begegnen. Wir „vergessen“, dass wir nur mit und durch andere Menschen zu Menschen werden.
Unsere Subjektivität können wir nur gemeinsam entfalten, nicht vereinzelt.
Die Individualisierung ist ein Versprechen, das niemals eingelöst wurde. Wir versuchen ständig unseren gesellschaftlichen Status zu steigern bzw. zu verbessern, indem wir alle den gleichen Spielregeln folgen. Wichtig und richtig wäre aus meiner Sicht, dass wir uns selbst und andere als Subjekte verstehen und uns jenseits von Strukturzwängen entfalten können.
Als Subjekte könnten wir uns jenseits von sozialen und ökonomischen Zwängen begegnen. Als Individuen sind vereinzelt, ohne ein Bewusstsein für unsere tiefgründigen Wünsche.
Wie steht es deines Erachtens heute um das seiner selbst gewisse und sich selbst bestimmende Subjekt?
Das Subjekt ist im Handgemenge.
Auf sämtlichen sozialen Feldern* wird um Identitäten gerangelt; die einen wollen bestehende Identitäten bewahren, die andere wollen sie erweitern, ergänzen, verändern. Das Subjekt steht zwischen allen Stühlen. Je nachdem wie diese Machtkämpfe ausgehen, wird es ein selbstmächtiges oder unterworfenes Subjekt sein. Der Ausgang entscheidet darüber, ob wir unsere Subjektivität und Besonderheit in unserem jeweiligen sozialen Feld ausdrücken können oder uns entfremden.
*Der Begriff des sozialen Feldes stammt von dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu und beschreibt ein gesellschaftliches System. Soziale Felder zeichnen sich für ihn durch jeweils spezifische Funktionen, Strukturen und Regeln aus.
Wenn ich mir die Bewegungen ansehe, die klassische Identitäten wie Nation, Geschlecht oder Rassifizierungen kritisieren, dann habe ich durchaus Hoffnung. Allerdings wächst mit den neuen Möglichkeiten auch die Unsicherheit. Nicht jede*r empfindet sie als befreiend; für manch ein*n können sie auch überfordernd wirken. Das zeigen vor allem an jene Kräften, die zurück zu den alten einfachen Lebensmodellen wollen wie AfD, Trump und so weiter. Da fällt es schwer, sich als Mensch seiner selbst zu vergewissern und zu bestimmen; die Identitätsangebote sind verlockend, aber auch brandgefährlich.
Wie kann man verhindern, dass neue Identitätsmöglichkeiten einen autoritären Charakter entwickeln?
In der Kritischen Theorie setzt hier das Konzept der Nichtidentität an. Der Begriff wurde vor allem von Adorno geprägt. Er weist darauf hin, dass nichts vollständig mit sich selbst identisch sein kann. In allen Identifizierungen geht immer etwas nicht auf und wird verschüttet. Man kann Nichtidentität als Mahnung verstehen, Identitäten grundsätzlich in Frage zu stellen.
In dieser Hinsicht ist der hochkomplexe philosophisch-theoretische Begriff, denke ich, auch für die politische Praxis sehr interessant. Er hält uns an, Identitäten (auch die eigenen) reflexiv zu behandeln. Wie sind Identitäten entstanden? Welche gesellschaftlichen und historischen Prozesse haben dazu geführt, dass Menschen sich als Angehörige einer Nation oder als Mann/Frau identifizieren? So wird deutlich, dass alles auch ganz anders hätte kommen können und auch alles noch anders werden kann.
Dieser Stachel des Nichtidentischen lässt Identitäten brüchig werden. Autoritäre Identitäten könnten so vermieden werden.
»Der entfremdete Mensch hat den Kontakt mit sich selbst genauso verloren, wie er auch den Kontakt mit allen anderen Menschen verloren hat. Er erlebt sich und die anderen so, wie man Dinge erlebt – mit den Sinnen und dem gesunden Menschenverstand, aber ohne mit ihnen und der Außenwelt in eine produktive Beziehung zu treten.«
Erich Fromm: Wege aus einer kranken Gesellschaft, in: Erich-Fromm-Gesamtausgabe (GA) Band IV, S. 88.
Der Begriff der Entfremdung erlebt im Unterschied zu dem des Subjekts seit den 2000er Jahren eine Art Renaissance. Wie erklärst du dir diese Aktualität? Und was zeichnet Entfremdung unter den heutigen Bedingungen der Globalisierung, Digitalisierung, Individualisierung etc. aus?
Wissenschaftlich war das Gegenmodell von Entfremdung immer die Subjektivität. Aristoteles beispielsweise hat die Muße als Selbstzweck gegen dienstbare Tätigkeiten wie Arbeit gegenübergestellt. Für ihn liegen nur in den mußischen Tätigkeiten subjektive autonome Potentiale, die wir entfalten können. Diese Annahme kann man noch bis Hegel, Marx und Adorno/Horkheimer finden. Allerdings ist dieses Modell gerade durch den Einfluss von poststrukturalistischen Theorien zurecht verdächtigt worden, essentialistisch und paternalistisch* zu sein.
Essentialistisch ist eine Annahme, wenn sie von einem festen, unveränderlichen Kern im Menschen ausgeht, der durch die Kultur verdeckt werde. So zum Beispiel die Annahme, dass der Mensch grundsätzlich egoistisch oder altruistisch sei. Paternalistisch bedeutet bevormundend: Man verlangt von anderen eine bestimmte Lebensweise, weil man angeblich besser weiß, wie andere ihre Entfremdung überwinden.
Vom Gedanken an einen essentiellen Wesenskern des Subjekts müssen wir uns tatsächlich verabschieden. Das ist durch die Forschungslage nicht mehr haltbar, Menschen sind wesentlich komplexer und zu verschieden. Leider wurde mit dem Essentialismus auch die Subjektivität vorschnell verabschiedet. Ich versuche, den Begriff frei von der Idee fester wesenhafter Eigenschaften zu rehabilitieren. Denn wir brauchen den Subjektbegriff, um Entfremdung sinnvoll begreifen zu können. Und wir brauchen den Begriff der Entfremdung als gesellschaftskritische Kategorie.
Warum?
Weil der Begriff der Entfremdung das Lebensgefühl von vielen Menschen sehr konkret anspricht. Jede*r kennt vermutlich das Gefühl, das die Frage begleitet „Wozu mache ich das eigentlich?“ oder den Gedanken „Ich führe ein Leben, aber es fühlt sich nicht nach meinem an.“
Die kapitalistische Globalisierung hat (was paradoxerweise den sozialistischen Bewegungen nachgesagt wird) eine irrwitzige kulturelle und ökonomische Gleichströmigkeit hervorgerufen, aus der man kaum herauskommt. Dadurch schrumpfen natürlich auch erstmal Identitätsmöglichkeiten. Die meisten Identitäten sind heute sehr stark an Wettbewerb gekoppelt. Und das bedingt Entfremdung.
Und wie verhalten sich deiner Meinung nach Digitalisierung und Entfremdung zueinander?
Oh, das zu beantworten, wäre sicherlich nochmal eine eigene Dissertation wert. Um es kurz anzureißen: Ich nehme an, dass im virtuellen Raum mannigfaltige Identitätsmöglichkeiten geschaffen werden, die sicherlich entlastend wirken können. Aber haben sie nicht die Qualität, Entfremdung wirklich zu mindern.
Ich kann meine Identität dort in unzähligen Varianten verändern. Das ist das spielerische Element und bietet vielfältige Möglichkeiten, sich auszudrücken. Es kann aber auch abhängig machen kann. Diese Form der Entlastung ist meist nicht nachhaltig. Daher besteht die Tendenz in einen repetitiven Anerkennungsmodus zu verfallen, der nur noch virtuell ist.
Was macht dieser ein rein virtueller, sich stets wiederholender Anerkennungsmodus mit uns als Subjekt?
Wir werden ständig um unser Glück betrogen. Die Anerkennung, die wir für Likes und Comments bekommen, prägt unsere Identität. Sie schafft aber selten einen Zugang zu unseren subjektiven Bedürfnissen.
Wenn ich für Schminktipps oder Fitnessvideos 1000ende Likes bekomme, dann ist das eine Anerkennung, die im ersten Moment glücklich macht. Nachhaltig ist sie nicht. Wenn ich das Handy oder den Laptop weglege, bleibt davon nicht mehr viel übrig. Die Entfremdung bleibt oder wird sogar noch verstärkt. Als Folge lässt sich beobachten, dass Menschen sofort wieder in die Virtualität flüchten, sobald sie eine ruhige Minute haben.
Mindestens so aktuell wie der Topos der Entfremdung ist der der Identität. Als politische und kollektive Praxis steht sie derzeit stark in der Kritik, da sie Unterschiede zementiere und Partikularinteressen fokussiere. Wie verstehst du Identität und teilst du diese Kritik?
Identität hängt immer mit Identifizierung zusammen und Identifizierung ist immer der Versuch, sich selbst sinnvoll mit der Welt zu vermitteln.
Nach Anthony Giddens wird Identität daher auch über das Selbstnarrativ gebildet. Was ich von mir erzähle, strukturiert meine Identität. Genauso wie meine Welt mir erzählt, wie ich bin bzw. sein soll (Mann/Frau, Deutsche*r et cetera). Bei Marx wäre das eine Spiegelung, die ich durch meine Umwelt erfahre.
Meine Identifikationsmöglichkeiten hängen jedoch maßgeblich von dem sozialen Feld ab, in dem ich lebe. Es kann mir Identitätsmöglichkeiten bieten, die zu meinen Wünschen, Bedürfnissen und Erfahrungen passen. Dann kann ich mich mit mir selbst identifizieren.
Wenn diese Identitätsbildungen scheitern, wird man anfälliger für sehr abstrakte Identitäten wie Nation oder auch Rassifizierungen usw. Dabei spielen sehr stark Ersatzbefriedigungen eine Rolle, die den Menschen nicht an seine konkrete Lebensgeschichte bindet, sondern an abstrakte Mythen. Ein gutes Beispiel sind Nationalitäten. Das sind künstliche Produkte, die alle einen bestimmten Gründungsmythos brauchen. Meist sind das Sagen und Legenden, verklärte Schlachten oder gewonnene Kriege. Mit denen soll man sich identifizieren bzw. eine nationale Identität annehmen. Das ist meines Erachtens eine falsche Antwort auf die Entfremdung und sie funktioniert auch nicht.
Was ist für dich die „richtige“ Antwort?
Grundsätzlich finde ich gegenhegemoniale Identitäten und Praxen sehr begrüßenswert. Eine gegenhegemoniale politische Praxis ist zum Beispiel das dritte Geschlecht (m/w/d). Man bietet auf diese Weise sichtbare Alternativen in einem sozialen Feld, die mehrheitsfähig werden können.
Entscheidend dabei ist es, ein gemeinsames Ganzes zu finden, worin gegenhegemoniale Identitäten sich zusammenfinden, ohne sich wechselseitig auszuschließen. Im Moment erleben wir eine politisch geeinte Rechte und eine uneinige Linke. Die Rechte hat sich auf das autoritäre Identitätskonzept der Nationalität mit traditionellen binären Rollenbildern verständigt. Die Linke bekommt derzeit kein gemeinsames Projekt hin, in dem verschiedene Identitäten ein gemeinsames Ziel verfolgen.
Wünschenswert wäre es, gemeinsame Identitätsräume zu schaffen, in denen wir unsere Subjektivität frei entfalten können. Wo man, wie es Adorno so schön formulierte, „ohne Angst verschieden sein kann“. Das wäre das, was der Begriff Emanzipation meint.
Zu den Bildern: Es handelt sich um Pressebilder zu Antarktika. Eine Ausstellung über Entfremdung, die noch bis zum 17. Februar 2019 in der Kunsthalle Wien zu sehen ist.
„Antarktika blickt auf das der Entfremdung grundlegende Muster einer „Beziehung der Beziehungslosigkeit“ und spürt dem Begriff in seiner Aktualität sowie den daran geknüpften soziologischen Befunden in zahlreichen zeitgenössischen Werken nach. Angesprochen ist damit auch die Frage, welche anderen Formen des Welt- und Selbstbezugs es braucht, um überhaupt so etwas wie Raum für Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung zu schaffen.“
Danke! Sehr lesenswert!
Lg,
Werner
Danke. Das freut uns. LG I.
Danke